9 – Ich hänge nicht allzu sehr am Leben


Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Was für eine Aussage. Wie komme ich auf sowas? Würde ich das laut sagen, gäbe es wahrscheinlich bestürzte Blicke. Aber es ist so. Ich fühle mich so. Mir fehlt Sinn, Bedeutung, Zweck. Meine Therapeutin sagt, es gibt keinen Sinn des Lebens. Der Sinn ist das Leben selbst. Die Sache ansich.

Für mich hat der Sinn des Lebens mit Glück zu tun. Meine Schwester zum Beispiel. Sie würde nie sagen 'Ich hänge nicht allzu sehr am Leben'. Sie ist ein fröhlicher Mensch, glücklich verheiratet und hat 2 süße Kinder. Sie hat einen gänzlich anderen Blick auf die Welt als ich. Ich sehe vor allem Katastrophen, Krisen, Krieg und Korruptionsskandale. Ich würde niemals ein Kind in diese Welt setzen.

Das war einmal anders. Auch ich hatte Pläne und wollte eine Familie. Jetzt habe ich nur ein großes Fragezeichen im Kopf und Loch in meinem Herz. Wozu das alles? Ich kann nicht sagen, wo diese Lustlosigkeit am Leben herkommt. Ich nehme die Dinge so wie sie kommen, ich rege mich lange nicht mehr über Kleinigkeiten auf. Und auch das war mal anders.

Allerdings war es auch früher schon so, dass ich mich nicht an Kleinigkeiten erfreuen konnte bzw. besondere Dinge als selbstverständlich abgetan habe. Meine Ex-Frau sagte des Öfteren, ich wäre ein Eisblock. Dabei halte ich mich für einen sehr reflektierten und empathischen Menschen. Vielleicht ist das erst jetzt so. Vielleicht entdecke ich diese Seite an mir auch erst jetzt. Jetzt, da ich ja Zeit für mich habe.

Es ist schon interessant zu sehen, dass man immer erst was ändert oder ändern will, wenn man krass auf die Fresse gefallen ist. Wieder aufzustehen, ist sehr schwer. Ich habe lange Zeit einen Schuldigen für meine Situation gesucht. Und im zweiten Step einen Weg, einen Prozess, eine Liste von Schritten, die ich abarbeiten kann, um mich aus dieser Misere zu befreien. Aber so wenig, wie es einen Sinn im Leben gibt, so wenig gibt es etwas Haltbares, einen Grund für vermeintliches Scheitern.

Manche Wahrheiten im Leben muss man einfach akzeptieren. Die einen tanzen, die anderen eben nicht. Buuhuu. Ich zähle mich (noch) zur zweiten Gruppe. Selbstmitleid ist so hinderlich. Aber ich sehe es als essentiellen Teil der Erschaffung meines Selbst. Ja okay, langsam nervt's.

Begriffen habe ich, dass ich gewisse Dinge ändern muss. Hey und Einiges habe ich bereits erfolgreich umgesetzt. Uhh das hört sich wieder an wie Geschwurbel aus nem Aktenordner. Zum Beispiel bin ich sehr mutig geworden. Ich habe einen Fallschirmsprung gemacht. Ich habe gekokst. Und ich hatte bezahlten Sex mit einer rattenscharfen Latina. Ich traue mich tatsächlich, mit Menschen zu sprechen und meinen Willen geltend zu machen.

Das ist wahrscheinlich die heftigste Veränderung, die meine Transformation bewirkt. Mehr den Vordergrund ausfüllen als im Hintergrund zu verschwinden. Das eigene alte Selbst zu überwinden. Wie schwer das ist, das brauche ich sicherlich nicht erklären. Ich scheitere oft. Es ist mir noch nicht gelungen dieses vermeintliche Scheitern als etwas Positives zu erkennen. Doch ohne die MS wäre ich nicht an diesem Punkt.

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