4 – 11 oder 12 Jahre später

 

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Ich war verheiratet. Wir hatten ein Haus mit großem Grundstück, wir hatten Pläne, wir hatten viel Arbeit. Meine persönliche Einstellung war: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“. Die Arbeit war nie fertig und mein Anspruch, gerade an mich selber, viel zu hoch. Das hatte psychische Gründe und entwickelte sich langsam im Unterbewusstsein, ohne dass ich es gemerkt habe. Ich erfuhr erst viel später davon. Meine Psychotherapie habe ich 2019 angefangen, als ich ziemlich am Boden war. Wie sehr die Psyche bei MS-Betroffenen eine Rolle spielen kann, ist nicht nur im Nachhinein erstaunlich. Mir bzw. uns war jedenfalls absolut nicht klar, was eigentlich passierte. Ich wurde langsam unleidlich, habe viel geflucht, bin oft mit Scheuklappen und Tunnelblick durch die Botanik gelaufen, habe wenig gelacht, meine Frau nicht wertgeschätzt, konnte mich nicht entspannen und war total unzufrieden mit allem und jedem. Wir waren damals zwar zusammen beim Neurologen, aber auf psychische Probleme sind wir nicht gekommen. Vielleicht haben wir nicht intensiv genug miteinander geredet, vielleicht wollte ich alles nicht wahrhaben, vielleicht habe ich nicht gut genug zugehört. Ich gab, was ich konnte, aber nur materiell. Ich reparierte am Haus, im Haus, ging arbeiten – immer mit dem Gedanken „du musst das schaffen“. Ich habe mich selbst extrem unter Druck gesetzt. Es spielte sich alles in meinem Kopf ab. Ich habe niemanden reingelassen. Meine Frau erst recht nicht, für sie wollte ich, dachte ich, es wäre nötig und richtig – ich kann gar nicht in Worte fassen, was ich fühlte. Auf jeden Fall leide ich heute noch darunter. Denn die Quittung kam pünktlich wie mit der Post. Zuerst kündigte ich meinen Job in einer Spedition. Die Stressbelastung war einfach zu hoch. Ich ging in eine andere Spedition. Diesmal nicht Straße, sondern Luft. Genauso stressig. Kein Unterschied. Nach außen hab ich immer so getan als wäre alles OK, wollte stark sein. Pusteblume.

Nach der Scheidung und dem Verkauf vom Haus ist natürlich alles den Bach runter. Nicht materiell oder finanziell. Damit hatte ich seit Jahren keine Probleme. Wenigstens damit. Doch was sich in meinem Kopf abspielte, fraß sehr viel Zeit und Energie. Gleiches Spiel wie vorher auch. Ich habe mich von überflüssigen Dingen befreit, habe alles geordnet und strukturiert, sauber gemacht, Nötiges gekauft, mich informiert und wieder meinen Job gekündigt. Ich dachte damals, das wäre die einzige Lösung. Letztendlich habe ich jetzt 'ne Kuhle im Sofa. Ein dreiviertel Jahr fast habe ich nichts gemacht. Ich hab mich auf Facebook rumgetrieben, bin zu Single-Veranstaltungen gegangen und habe Serien gesuchtet. Und gesoffen. Natürlich. War das scheiße.

Mitte 2017 hab ich wieder einen Job angenommen. Wieder Transportgewerbe, wieder Kundendienst, wieder viel im Stress. Nichts gelernt. Einziger Unterschied: Ich bin recht schnell offen mit der MS umgegangen und habe Chef, Vorgesetzte und Kollegen informiert. Das halte ich immer noch so. Und zwar überall. Schnell wird aus Vorwurf Betroffenheit. Ich weiß nicht, was besser ist – wenigstens halten die meisten dann die Klappe.

Während dieses kürzlich wieder einmal beendeten Arbeitsverhältnisses habe ich mich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Und zwar aus rein egoistischen Gründen. Ich fühlte mich allein, einsam geradezu und unverstanden. Ich musste dieses Gefühl der Leere loswerden, mich mit Menschen austauschen, die wenigstens das gleiche Krankheitsbild haben, die verstehen, wovon ich rede. Ich brauchte Hilfe. Andernfalls würde ich mich selbst zerstören.

Anfänglich habe ich nicht sehr positiv gedacht: „Was willst du hier?“, „Eigentlich geht’s dir doch super“, „Hier kannst du nicht kriegen, was du brauchst“. Dass es um was anderes geht – nämlich Gemeinschaft, mit Geben und Nehmen, Zusammenhalt, Zusammengehörigkeit und positive Erfahrungen – wurde mir erst sehr viel später klar.

Ich war wieder viel zu technisch eingestellt. Aber das brauchte ich eigentlich gar nicht. Anja und André haben das Rudel voll im Griff. Wir sind alles „junge“ Leute zwischen 18 und Mitte 40 in verschiedenen Lebenssituationen. Leute, von denen man lernen kann, Leute, die was erleben wollen, Leute, die ein Leben haben. Alles Gesegnete, die der MS trotzen. Ich will auch so stark sein. Mich nicht mit der Krankheit identifizieren. Wir haben bereits viel zusammen erlebt. Weil wir eben nicht resigniert auf den Sensenmann warten, planen und organisieren wir in der Gruppe Aktivitäten, die wir gemeinsam durchziehen. Neongolf, Escape Room, Survival Run, Kino, Koch- und Infoveranstaltungen, Biergarten und Fahrten zu anderen Selbsthilfegruppen (mehr fällt mir grad nicht ein). Abgesehen von entstandenen engeren Freundschaften, die immer eine persönliche Bereicherung sind.

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