34 - Freiheit

Oktober 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Ist die Einzige, die quält!

Ist die Einzige, die zählt!

Ich habe in der Vergangenheit, vor allem in meiner Kindheit, besondere Vorkommnisse und gewaltige Einschränkungen, also auch schlimme Dinge erlebt und erfahren, die ich lange Zeit als Entschuldigung, als Rechtfertigung sogar benutzte, um in der Gegenwart bzw. Zukunft für mich nicht aktiv werden und Verantwortung für mich übernehmen zu müssen. Ich habe vermeintlich negatives Neues zu bereits erlittenem Ungemach addiert und jeden scheinbar auch nur annähernd freudigen Moment ignoriert.

Habe auf dem Sofa gelegen und nebenbei durch einen Tränenschleier hindurch ferngesehen, irgendwas mit Mardertieren im Winter. Ich weinte, weil ich realisierte, dass ich manchmal bereits vor 16 Uhr schon bettfertig bin. Wie schlecht es mir körperlich geht, wie schwach meine Arme sind und wie unsicher ich mich durch meine Wohnung balanciere. Das Weinen hörte erst auf als ich in einem zufällig klarsichtigen Moment einen Fischotter auf Arte sah, der einem lebendigem Fisch beherzt in den Kopf biss und dessen halbes Gehirn, an einem Stück verbliebenen Restschädel klebend, wie ein bajuwarischer Weißwurst Zuzler, genüsslich und geräuschvoll durch seine lädierte Zahnlücke lutschte. Ich musste extrem laut lachen, und danach war die Trübsal fürs Erste vorbei. Ich vermute, ich darf die kleinen Dinge wertschätzen lernen; die Chance ist groß, Dinge zu sehen, die sonst nur Wenigen auffallen. Davon kann ich risikolos süchtig und so erfreulicherweise zum Momentmillionär werden. Wie allerdings der hungrige Fischotter in dieses Bild passt, kann ich mir auch nicht erklären. Doch ich muss nicht immer alles verstehen und jedes Wort auf die Goldwaage legen. Von diesem Anspruch darf ich mich befreien. Die finale Anregung zu diesem Kapitel war ein Song namens Nookie aus 1999 von Limp Bizkit. Keine Ahnung, der war eines Tages da und ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Dann habe ich ihn mal wieder angehört. Ich fand ihn solala und danach ging er, vielmehr der von mir unvollständig verstandene Text, noch viel weniger aus dem Kopf. Hier geht es eigentlich darum, dass ein nicht näher benannter Typ, Alles nur für ein Stelldichein mit einer Frau tut. Er stellt selber fest, dass auch er nur ein Mensch ist und gar nicht anders kann, als es immer wieder zu tun. Und obwohl er damit manchmal auf die Schnauze fällt oder enttäuscht wird, versteht er seine Innerlichkeiten und geht ehrlich mit ihnen um. Wenigstens mit dieser einen. Somit kann er immer wieder aufstehen und es von vorne versuchen. Er stellt auch fest, dass viele andere Menschen mancherlei Meinung zu ihm und den Dingen, die ihn umgeben, haben und vermeintlich gut gemeinte Ratschläge erteilen. Die aber wohl niemals fruchten werden, weil er immer derselbe Mensch sein wird. Er hat also eine Art Bewusstsein für sein Laster entwickelt und das brüllt er nachdrücklich in diesem New Metal Song raus. Ich persönlich versuche solche Geschichten auf mein direktes Umfeld, auf meine Belange zu beziehen. Das heißt, ich versuche da gar nichts aktiv, das passiert mittlerweile einfach. Naja und dann will ich darüber nachsinnen und oftmals kann ich für mich Dinge erkennen, die vorher verborgen schienen. So ein Bewusstsein und der Wille, Verständnis für etwas entwickeln zu wollen, ist eine tolle und bereichernde Sache. Daraus kann eine große Freiheit entstehen.

Es hat eine Weile gedauert, bis ich den Gehwagen aus der Abstellkammer gezerrt und ihm einen Namen gegeben habe. Mittlerweile gibt es Manfred den Dritten! Ich mache mir ein wenig Spaß daraus, mich nach dem Verbleib des Herrn Kronprinzen zu erkundigen, anstatt den scheiß Rollator fluchend aus der Versenkung zu kratzen. Es ist aber auch ein Dilemma. Ohne Gehwagen gehe ich nicht mehr aus dem Haus. Das sieht doch aber scheiße aus für einen so jungen Mann wie mich, überall werde ich heimlich angeglotzt, glücklicherweise darf ich mich nur selten erklären. Ohne Gehwagen laufe ich wie ein Betrunkener, muss mich überall abstützen und falle vielleicht einfach um. Davor habe ich am meisten Angst, nicht erst wenn es soweit ist, nicht möglicher Schmerzen wegen oder brauchbarer Verletzungen. Sondern davor, dass ich mit meinem Holzkopf irgendjemandem seine Freiheit nehme. Also habe ich mich anzupassen und so akzeptiere ich meine Freunde, die Hilfsmittel. Ich gebe Ihnen schönere Namen und ich rede mit ihnen. Diese neuen Freunde hatten anfangs ein krasses Problem mit meinen Gewohnheiten, Ansprüchen und Erwartungen und so durften wir erstmal gemeinsam Kompromisse finden und einen maßvollen Umgang miteinander vereinbaren. Oder aus anderer Sicht:

Ich musste ein Update für mein Betriebssystem, also meinen Verstand und was sonst in mir ist, erwerben und tief in mir verankern, um meine bereits vorhandene Hardware, also meinen Körper, anders bzw. effektiver nutzen zu können. Dieses Update stellt auch entsprechend reifere Treiber zur Verfügung, um neue Hardware, also den Rollator, Windeln und ähnliches in mein Leben einzubinden und überhaupt nutzbar zu machen. Auch auf der Softwareebene ist Einiges neu. Eine sehr viel breitere und freiere Offenheit Neuem gegenüber. Eine riesige, warme Neugier mir gegenüber. Altes ist vergangen und kommt nie wieder. Gut so. Vielleicht kannst du wie ich, irgendwann für dich wirklich feststellen, dass diese ganzen Abschiede und gefühlten Verluste, dieses vermeintliche Aufgeben, dieser ganze Schmerz, erstaunlicherweise eine glückliche Befreiung und Erlösung von dir gegenüber unfreundlichen, an dir zerrenden Bewohnern gewesen ist. Bewohner, die keine Miete zahlten und alles kurz und klein schlugen, die an deinen Gewohnheiten krampfhaft festgehalten haben. Bewohner, die Ansprüche gestellt haben und dich mit ihren Erwartungen überforderten. Die sich immer in dein Blickfeld, in den Vordergrund gespielt, sich vor dich gedrängelt haben und die freie Sicht auf das Wesentliche, auf dich nämlich, blockierten. Die deine Mitwelt quantifizieren wollen, wo du doch neuerdings nach Qualität strebst. Wir hatten genug Zeit Fehler zu machen, jetzt ist es auch für dich an der Zeit zu wachsen! Du siehst die Welt wie sie ist und nicht wie sie sein sollte. Stellst fest, dass es einfacher ist, sich mit Menschen zu umgeben, die dich verstehen, als mit Menschen, die versuchen, dich zu verstehen. Meine damalige Frau war ein großes Glück, meine Ausbildung, meine Arbeit aber vor allem ich selbst bin ein großes Glück. In mancherlei Hinsicht ist sogar die MS ein großes Glück. Jede Medaille hat zwei Seiten. Ich jedenfalls habe mich dazu entschieden, Gigi der Träumer zu sein und niemals wieder Girolamo der Lügner! Träume sind keine Schäume. Es gibt so viel Hilfe da draußen, ja, der erste Schritt ist immer der schwerste. Weg von der Trübsal...hin zu mehr Spaß!

Hier steht noch: “Seufzer grundloser Zuversicht” auf meinem Spickzettel. Meine Schwester, meine Mutter, meine Tante mütterlicherseits, deren Mutter und wahrscheinlich die 4 jährige Tochter meiner Schwester wird irgendwann auch angesichts dieser vererbten Eigenart frohlockend, grundlos und zuversichtlich seufzen. (Das ist ein komischer Satz, den lasse ich stehen.) Die Mädels seufzen einfach gern. Das ist ein, aus heiterem Himmel, aus der Luft Gegriffenes: “Hach ja, es ist so wie es ist und weil es so ist wie es ist, ist es so wie es ist. Und das ist okay.” Ich denke bei allen immer: “Mensch Mädchen, wat haste denn so schwär?” Aber wäre es nicht schön, den Tag mit genau dieser Einstellung zu beginnen? Sich selbst zu sagen, dass alles gut ist und diese Motivation erhobenen Hauptes durch den ganzen Tag zu tragen? Sich in überstandenen brenzligen Situationen selbst auf die Schulter klopfen und laut sagen ‘gut gemacht’ oder im Moment sich anbahnender Melancholie sich selbst Mut zusprechen: “Ja, so ist das eben.”

Das Leben ist generell nichts für Feiglinge, manche dürfen besonders tapfer sein...

Ich kann dir sicherlich einige Texte von Sängern, aus TV Shows oder Filmen und irgendwelchen Dichtern aufschreiben und hier präsentieren. Verbalisierte Gedanken von Rockstars, Hip Hoppern, Philosophen, Poeten, Schriftstellern, Kabarettisten und nicht zuletzt meinen Therapeuten. Im Laufe der Jahre hat sich Vieles angesammelt, auch an eigenen Interpretationen, die mir gedanklich und emotional auf vielen erdenklich möglichen Ebenen weitergeholfen haben. Ideen teilweise auch Wirklichkeit werden ließen. Gerne würde ich diese, für mich hilfreichen und für vermeintliche Orientierung sorgenden Texte hier aufschreiben. Ich würde sogar meine persönliche Meinung oder Wertung dazu anbieten. Aber das würde gar nichts bringen, im Gegenteil. Du würdest vielleicht meinen Weg wie eine Anleitung zu einer Diät verstehen. Einen 30 Tage Plan, den du abhaken kannst. Du würdest vielleicht etwas Diffuses hoffen und damit eine Erwartungshaltung entwickeln, die dich am Ende wohl eher nerven würde, weil du nicht bekommst, was du brauchst. Um die ureigene Freiheit muss jeder Mensch alleine ringen. Erfahrungen machen, hinfallen, wieder aufstehen. Und das Ganze nochmal von vorn. Wieder und immer wieder. Ja sicher, das ist total mühselig, aber der einzige Weg. Es wird Zeiten geben, in denen du vielleicht verzweifelst und dich fragst: Was soll das hier alles? Es wird sicherlich auch Zeiten geben, in denen du alles hinschmeißen willst. Mach eine Pause, lass dir Zeit, setz dich nicht selbst unter Druck. Denn es kann möglicherweise auch Zeiten geben, in denen du schwach bist und hoffst: "Bin ich froh, dass mich keiner sieht." Jeder Mensch hat seine eigenen Grenzen und jeder Mensch darf diese selbst erfahren. Ein Predigen oder Vorkauen von starren Abhandlungen oder Erlebnisberichte Anderer mag zur Ideenfindung ganz nett sein. Mehr aber auch nicht. Eine mögliche Entgrenzung ist eine hoch individuelle Angelegenheit. Besonders hinsichtlich einer irgendwie gearteten Beeinträchtigung, physisch wie psychisch, darfst du geduldig mit dir sein und vor allem gut mit dir sprechen. Eben wie mit einem Freund. Du kannst dich selbst an die Hand nehmen und die vermeintliche Grenze vorsichtig in Augenschein nehmen. Und wenn du so weit bist, wenn du dich wohl fühlst, vielleicht abgesichert hast oder eben mutig bist, möglicherweise ebenso tapfer, dann darfst du einen Schritt weitergehen. In deiner eigenen Geschwindigkeit. Du musst überhaupt nichts.

Ich hatte neulich eine Verabredung mit einer richtig tollen Frau. Ich kannte sie schon ein bisschen, bei einem unlängst bestimmten Zusammentreffen aber ist sie mir besonders aufgefallen. Ich will das gar nicht so detailliert beschreiben, doch an diesem unverhofft wunderschönen, sonnigen Tag hätte ich sie am liebsten gepackt, über die Schulter geworfen und in meine Höhle geschleppt. Diese Einzige Frau im roten Kleid, du verstehst. An jenem Tag kam zu ihrem sowieso immer paillettenartig glitzernden Leuchten, aufgrund ihres tollen Lächelns, noch ein Strahlen hinzu. Eine pulsierende Korona aus Regenbogen um ihre gesamte Gestalt herum. Ich habe vor einiger Zeit mal ein Gedicht verfasst, welches genau diese Erfahrung wiedergibt, obwohl ich Evastochter damals noch gar nicht kannte. Da ist also etwas ganz wunderbar Wahrhaftiges geschehen, womit ich im Leben nie mehr gerechnet hätte, das meiner mir mittlerweile bewusst gewordenen Sehnsucht sehr nachhaltig Ausdruck verlieh. Die Sehnsucht danach gesehen zu werden, nämlich. Dieses tolle Gefühl gab sie mir die gesamten zweieinhalb Stunden über, in denen wir unser Spaghettieis wegnudelten. Sie ist einfach toll, sie ist so klug, so offen, erfahren und tolerant, wie es nach einem ersten intimeren Zusammensein selten mein Empfinden war. Ich selbst erlebte mich als super tollpatschig und super behindert. Immer wenn ich aufgeregt bin, verkrampft sich mein Nacken und überhaupt ist alles irgendwie angespannt. Ich hätte mir am liebsten meine Halswirbelsäule abgeschraubt, um dieses krampfige Gestotter loszuwerden. Es fiel mir sehr schwer, ich selbst zu sein, sowas passiert mir vornehmlich in genau solchen Situationen. Ich kenne dieses total überflüssig beeinträchtigende Verhalten von mir schon seit ich... 16 bin? Ich bin so anhaltend gehemmt davon und verhindere mich dadurch sozusagen selbst, ich bin dann nicht frei in meinem Sein. Es ist merkwürdigerweise völlig unerheblich und für mich überhaupt nicht nachvollziehbar, wer genau dort vor mir sitzt, hier geht es um eine Freiheit, um die ich mich wohl unbewusst selbst beraube. Ich habe noch keine Strategie gefunden, um in solchen Situationen souverän zu sein, vielleicht sollte ich mich einfach nicht so sehr selbst unter Druck setzen und mich von meinen Hoffnungen und Sehnsüchten emanzipieren. Haha! “sollte und einfach”! - Na klar. Ein Stück weit von mir selbst befreien also. Ich meine damit explizit nicht… etwas von mir abschalten, unterdrücken, ignorieren oder wegschieben. Denn das geht nicht und beim ernsthaften Versuch gehe ich kaputt. Ich muss nicht irgendwelche Dinge an mir ändern, doch ich darf einen wohlwollenden Umgang mit mir und meinen vielen Facetten, Special Effects und schlicht mir selbst finden und alle meine unterschiedlichen Bedürfnisse nach außen sowie erst recht nach innen vermitteln. Es ist so, so, so, so, so wichtig, wie ich mit mir selbst spreche. Muss ich etwas, oder darf ich? Setze ich mich selbst unter Druck, zwinge ich mich, überwinde ich mich widerwillig; das ist alles Exkrement, das braucht kein Mensch.

Was also ist das; Freiheit? Eine Diktatur schier unendlicher, bewusster und unbewusster, jedoch nur wahrscheinlicher Möglichkeiten, die es zu erkennen gilt und zwischen denen zu vermitteln ist. Bewusste Möglichkeiten sind jene für oder gegen die wir uns aktiv entscheiden. Unbewusste Möglichkeiten sind solche, die sich in unserem Selbst, unserem Inneren, also im Verborgenen abspielen, die automatisch stattfinden, ohne dass wir auch nur den kleinsten Einfluss auf sie hätten. Die größtmögliche Freiheit, im Sinne von 'frei sein', können wir vielleicht nur erlangen, wenn wir keine Angst mehr haben müssen und Hoffnung überflüssig ist. Absolut gesehen, ist eine solche Freiheit wohl nicht zu erringen. Es wird immer etwas geben, dass uns ängstigt und immer werden wir uns an irgendeine Hoffnung klammern. Aber als Lebensmotto, als Idee, als Bild, als Vorstellung, als Leitsatz, der uns unser Leben lang begleitet, kann er dazu bewegen uns Wissen anzueignen und Möglichkeiten zu entdecken, um dadurch Erfahrung zu sammeln. Wissen über uns selbst und unsere Fähigkeiten. Dieses Wissen und die daraus entstehende Erfahrung kann uns angstfreier machen, weil wir dann nämlich in der Lage sind, feinfühlig zu ahnen, was vor uns liegen könnte. Und es kann uns flexibler machen, geschmeidiger, letztendlich gelassener, wir müssen uns nicht mehr verzweifelt an nur eine einzige Hoffnung klammern, sondern können bestenfalls mehrere zu Rate ziehen.

Ich darf! Ich werde mir meines Bewusstseins bewusst. Ich verschließe sonst vielleicht den Zugang zu meinem inneren Garten, wo ich mich am Wohlsten fühle, wo es ruhig ist und alles grünt und blüht, Schmetterlinge umherschwirren, wo ich gern liebe Menschen hin einlade. Denn hier bin ich mir selbst gegenüber aufmerksam, hier habe ich mich klar für mich entschieden und hier kann ich ohne Bedenken Verantwortung für meine Gefühle und Emotionen übernehmen. Hier brauche ich keine Entschuldigungen, keine Rechtfertigungen aus der Vergangenheit herbei fantasieren.

Hier kann ich das Glück, lächelnd und gelöst, wie einen warmen Hauch niemals enden wollenden Frühlings, mit offenen Armen, annehmen und voller Freude begrüßen.

Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…

 

Blogpost teilen
hoch