33 - Help me Rhonda

September 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Mein neues, rotes Auto soll Rhonda heißen. Rhonda? Es gibt ein Lied von den Beach Boys mit dem Titel: Help me Rhonda. Den Text muss ich irgendwo nachlesen um zu erfahren, worum es da eigentlich geht. Vielleicht mache ich das gleich noch. Ich hatte den Kehrreim dieses Liedes direkt in meinem Kopf, als ich auf der Autobahn im Stau stand. Das linke Bein permanent auf der Kupplung durchgestreckt, atterte ich mich durch die gleißende Ansammlung von Blech und Klimaanlagen. Es war warm, Uthoff fühlte sich ausgesprochen wohl und zeigte seine ganze Pracht. Die blöde Schaltung machte auch nicht das was ich
wollte. Anfahren, Bremsen; Stop & Go; absaufen. Das war so wahnsinnig anstrengend, dass ich mir sofort dachte, Fritzi muss weg. Ich muss sofort ein neues Auto mit Automatikschaltung haben. Die Betonung lag auf “sofort” und “jetzt gleich!” Hier erwuchs also ein Anspruch aus einer vermeintlichen Notsituation heraus. Lange Autofahrten sind schon seit einiger Zeit nicht mehr angenehm, vor allem das Treten der Pedale, die Schalterei, aber besonders dabei den Überblick zu behalten, artet mittlerweile immer mehr in Stress aus. Mein Kopf wackelt wie verrückt, die Halsmuskeln zittern, sogar mein Physio in der Reha hat gestaunt. Mein Gehirn fühlt sich manchmal an als hätte es Schüttelfrost, aber ohne den Frost. Wie ein Tremor im Kopf, es ist sehr schwer die 6 kg schwere Denkmurmel zu balancieren, um meine Mitwelt nicht nur als Wackelbild wahrzunehmen. Das geht schon auf der Treppe beim Verlassen meiner Wohnung los. Ich bin natürlich froh am Ziel angekommen zu sein, kann die Freude über das Wiedersehen mit meiner Familie oder Freunden aufgrund der hoffentlich hinter mir liegenden Anstrengung und des Stresses nicht wirklich empfinden oder zeigen. DAS IST VOLL SCHEISSE UND DARAN WIRD RHONDA AUCH NICHTS ÄNDERN! Ich werde trotzdem mit meinem Manfred, also meinem Rollator, auf die Party gehen und versuchen zu leuchten und von mir zu schwärmen. Wenn ich nicht zu müde bin, denn dann gehe ich auch nicht auf die Party. Ich stecke wieder mal in einer Abschiedstour mit darauffolgender Neureglementierung meines Seins. Ich habe vor kurzem die Oase umme Ecke, meinen Garten, abgegeben, weil ich den allein nicht mehr bewirtschaften kann.
“Bewirtschaften” heißt Rasenmähen und ein bisschen was abschneiden. Das klingt nach nicht viel Arbeit. Doch ein Rasenmäher lässt sich mit Rollator scheiße schieben, ich habe es ausprobiert! Ich war super oft den Tränen wehrlos ausgeliefert, als ich realisierte, dass meine Kraft und am Ende auch meine Motivation, an solch schönen Gewohnheiten festzuhalten, immer mehr immer weniger wurde. Ich habe meine geile Gartenbank, von der ich auch schon berichtete, die mit den fetten Auflagen und überhaupt dem Symbol der Gemütlichkeit für mich, den Laufpass gegeben und an meine Freunde verschenkt. Rasenmäher, Rasentrimmer und noch einige andere Dinge mehr, habe ich Leuten gegeben, die es fortan besser gebrauchen können als ich. Auch habe ich mich von meinem sehr gewichtigen Couchtisch, den ich zu einer Art Vitrine umgebaut hatte, um meine großen Legoautos auszustellen, getrennt. Mit Lego ansich habe ich nur noch spielerisch Spaß, denn ernsthafte Puzzelei ist für mich anstrengende und nervige Ergotherapie geworden. Als Ersatz für Vitrine nebst Inhalt habe ich mir einen Relaxsessel besorgt, in dem ich nun gemütlich lesen und schreiben kann. Ende des Monats schaue ich mir eine WG für junge, versehrte Menschen an. Der Fluss meines Lebens bzw. mein Bild davon, scheint ganz schön wild. Wie stark, mutig und tapfer ich bin.

Jetzt liegt also der besiegelte Kaufvertrag für einen neuen Volkswagen mit Verbrennungs- motor neben den Greenpeace Unterlagen, wo ich Fördermitglied bin und mich für “grüne” Energie stark mache. Macht mich das allein zu einem schlechten Menschen? Oder einem Heuchler? Prinzipien, die ich früher mal hatte, nicht alle hoffentlich, scheinen heute nicht mehr die Wirksamkeit zu besitzen, die ich gerne aufrecht erhalten würde. Nur leider haben sich einige Vorzeichen in meinem Leben gravierend verändert. Hinsichtlich der Krankheit und ihren Auswirkungen macht es für mich keinen Sinn an alten, liebgewonnenen Dingen und den schon oft erwähnten Ansprüchen und Vorurteilen krampfhaft festzuhalten. Weil: das Alte ist vorbei und kommt niemals wieder, das tut irgendwann nur weh. Hinsichtlich des Klimas und der Elektromobilitätssache und der Future und so, habe ich ehrlich kein schlechtes Gewissen. Von meinem allgemeinen Verzicht kann sich jeder gerne persönlich überzeugen und interpretieren, wenn’s Spaß macht. Doch schließlich bin ich allein derjenige, der sich dem Ausdruck in den Augen des Typs im Spiegel gegenüber ergeben muss. Ich fahre gerne VW. Basta!

Ich habe den Liedtext jetzt mal gelesen. Letztendlich geht es um den hoffnungsvollen Wunsch eines Mannes, von einer Frau namens Rhonda getröstet zu werden, um seine alte Liebe aus seinem Herzen zu verbannen weil sich irgendeine Krätze zwischen sie gedrängelt hat. Dass und wie quälend es ist, zu wollen aber nicht zu können, weil äußere Umstände und/oder die körperliche Eigenartigkeit einen zwingen, gewohnte und geplante Dinge teilweise aufzugeben bzw. deutlich zu verändern, brauche ich hier sicherlich niemandem erklären.

Eine wahrhaftige Rhonda für mich scheint nicht in tröstender Sichtweite, deswegen projiziere ich vielleicht meine Sehnsüchte und Hoffnungen auf mein neues, rotes Auto. Vorübergehend, ganz sicher. Jetzt, da ich dies grad ausspreche, finde ich diese Annahme ein wenig befremdlich. Aber auch nicht so falsch. Hm…

Zu guter Letzt ist es diese, ja, peinigende, sentimentale Sehnsucht nach gewohnter, vermeintlicher Normalität, Sicherheit und Orientierung, die einzig eine Rolle zu spielen scheint. Beeinträchtigt von Scham, Unwissenheit, Unsicherheit, Angst, begleitet vom Festhalten an jedem noch so brüchigen Strohhalm, der Linderung der Schmerzen verspricht.

So help me Rhonda, yeah, to get her out of my heart, no no no no no no no nooo

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