32 - Betäubt

August 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Zum ersten Mal gekifft habe ich in einer Freistunde in der Schule mit 15 oder so. In diesem Alter sind manche Jungs ziemlich cool. Manche sogar zu cool und eigentlich immer verpeilt. Ich zähle mich sofort dazu, wir Verpeilten waren die, die in der Raucherecke rauchten und spuckten. In jeder Pause sechten wir einen Teich so groß wie das Mittelmeer. Jetzt, 23 Jahre später stelle ich fest, dass es das Wort "sechen" so gar nicht gibt und nichts mit spucken oder Teichen zu tun hat. Naja, wir waren halt dumm und rauchten das Geld. Rebellion zu jeder Gelegenheit. Zigaretten waren natürlich die Einstiegsdroge, die obligatorische Frage in jeder Pause, die es wert war, verraucht zu werden, lautete: "Lässt du mir n Bo?" oder: "Lässt du mir was dran?" Wie ekelhaft eigentlich. Da kriegst du eine fast bis zum Filter abgerauchte und ausgelutschte, eingespeichelte Sabberzichte, aus der eigentlich nichts mehr rauszuholen ist. Und du ziehst trotzdem wie ein Idiot oder eine Idiotin. Wenn ich denn korrekt gendern wollte, müsste ich die Idiotin vor dem Idioten nennen? Egal, die Pause ist gleich vorbei, so richtig schön stinkig geht's in den Unterricht. Einmal, und das war wirklich nur einmal, naja vielleicht zweimal, wurde ich vom Lehrer in bekifftem Zustand (also ich war bekifft, nicht der Lehrer) zum Antworten aufgefordert. Ich weiß nicht mehr was die Frage war, aber meine Antwort lautete: "Kann ich mal aufs Klo?" Ich weiß nur noch, dass der Lehrer unwirsch abgewunken hat und mich auf das ebenso charakteristisch stinkige Klo hat schleichen lassen.
Meine Eltern haben mir das Rauchen nie vorgelebt und haben selbst auch nie geraucht. Meine Mutter musste als junge Frau mal eine halbe Schachtel oder so auf einmal rauchen, als ihre Mutter sie erwischte. Jedenfalls, habe ich mir manchmal auch Zigaretten kaufen müssen, weil meine Kumpels irgendwann die Schnauze voll davon hatten, mich immer schnorren zu lassen. Die selbst gekauften Zigaretten versteckte ich in meinem Kinderzimmer, nein, Jugendzimmer mit Tic Tac Toe Postern an der Wand. Mein 10-jähriger Bruder entdeckte damals das Versteck und verpetzte mich direkt. Ab sofort gab es also kein Taschengeld mehr und so wurde ich genötigt, meine Geschwister zu beklauen. Die hatten so kleine Plastiksparschweine und da habe ich die Kohle mit einem Löffel herausgeholt, dessen Stiel ich in den Schlitz steckte und solange rührte, bis das grüne Plastikschwein Stahl, Messing, Nickel und Kupfer gebar. Das hatte natürlich irgendwann ein Ende und ich bekam in die Schnauze. Das habe ich verdient! Jedenfalls haben mich alle möglichen Sanktionen nicht vom Rauchen, nicht vom Saufen, nicht vom Kiffen, abgehalten. Gekifft habe ich seitdem immer mal wieder. Aber erst als ich meine Lehre in Angriff nahm und meine neue Freiheit begann, ging das mit der Kifferei so richtig los. Ich habe damals in einem alten kleinen Einfamilienhaus gewohnt. Natürlich nur in einem möblierten Zimmer. Azubis haben doch kein Geld, aber zum Kiffen reichte es irgendwann. Damals konnte ich noch selber drehen. Ich habe unter einem Baum vor der Eingangstür auf einem wahnsinnig bequemen Holzstuhl mit einem grünen Kissen drauf gesessen. Solange ich Azubi war und egal in welcher Wohnung in diesem Haus ich wohnte, gekifft habe ich immer auf diesem Stuhl. Diese wunderbaren Sessions sind mir immer noch am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Damals war es noch Genusskiffen. Ja und dann, dann kam der Alkohol.

Nachdem ich meine Lehre endlich bravourös meisterte, zog ich nach Bremen, der beschissensten Zeit meines Lebens entgegen. Ich glaube, das habe ich genauso irgendwo weiter oben auch schon mal geschrieben. Fakt ist, auch dort hatte ich keine Freunde bzw. mich auch nicht um welche gekümmert. Es war einfach Routine geworden mich irgendwie wegzubeamen, um nicht wahrnehmender Teil dieser Realität zu sein. Damals gab es in mir auch nur dieses Pseudobewusstsein und ich war mir nicht klar darüber, dass ich eigentlich leide. Mann, habe ich gesoffen. Whisky-Cola war mein Betäubungsmittel, damit kannst du mich heute jagen! Ich bin oft am nächsten Tag von hartem Asphalt geweckt worden. Bestimmt war ich noch ein bisschen stramm, als ich damals mit dem Rad zur Arbeit fuhr. Gerade im Winter bremste ich besonders oft mit dem Gesicht, ich glaube auf der Arbeit hat das keiner mitgekriegt, aber was weiß ich denn schon. Abwechslung musste natürlich auch sein. Ab und an bin ich mit der Bimmelbahn nach Hannover gefahren um mir dort bei einem ehemaligen Klassenkameraden was zu rauchen zu besorgen. Wie aufwendig, wie bescheuert das alles, ich bin sehr froh dass diese Zeit vorbei ist. Nach anderthalb Jahren durfte ich wieder zurück nach Hannover. Das Verlangen mich wegzubeamen verfolgte mich, bis es fast zu spät war. In Bremen bin ich garantiert knapp am Alkoholismus vorbeige- schrammt. Intensive Nachwirkungen davon habe ich nach Hannover mitgebracht und so lange verzweifelt daran festgehalten, bis ich alles verlor. Meine Frau, mein Haus, mein Leben, meine Gesundheit. Heute wiege ich noch 55 kg. Das darf ich eigentlich keinem erzählen, schon gar nicht meiner Mutter. Ich kann sagen, ich habe gekifft, um mein mit ständig ruminierenden Gedanken belastetes Gehirn zu defragmentieren. Und zwar täglich.

Die Kifferei hatte schon lange nichts mehr mit träumerischem Nichtstun, wie es am Anfang unter dem Baum auf dem bequemen Holzstuhl gewesen war, zu tun. Das war zuletzt nur noch Frustkiffen. Für mich war es einfach mich zu versorgen, und ich merkte wie ich mich in einer Art Abwärtsspirale befand, ich aber unfähig war, die Richtung zu wechseln oder einfach nur auszusteigen. Das ich das heute so aussprechen und aufschreiben kann, liegt einzig und allein an diesem Buch. Hier steht drin, was mich die ganze Zeit unterbewusst beschäftigt hat, was mich vom Leben abgehalten hat, was mich zwang mich wieder und immer wieder zu betäuben. Hier sind meine ganzen Erfahrungen konzentriert, ich lese sie wieder und immer wieder. Diese ganzen Baustellen, bauen alle aufeinander auf und hängen alle miteinander zusammen. Einige liebe Menschen, viele Bücher, aber auch meine Art Abstand zu schaffen, Pause zu machen, durchzuschnaufen, haben mich nun zu dem jetzigen Gefühl geführt. Irgendwie scheint sich dieses wirre Knäuel in meinem Kopf langsam aufzulösen. Ich brauche die Betäubung gar nicht. Ich kann noch nicht eindeutig erklären, warum das so ist.

Die Zukunft scheint nicht mehr so welk.

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