3 – Meinen ersten Schub

 

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Meinen ersten Schub, meine erste Erfahrung mit der Krankheit der 1.000 Gesichter hatte ich im Oktober 2002. Ich hab' extra auf den damals angefertigten Röntgenbildern nachgesehen. 2-mal. Türrahmen-Effekt halt. Andere Unterlagen von damals existieren davon nicht mehr. Verdrängung? Ich war damals 19 Jahre alt und im 2. Jahr meiner Lehre zum Speditionskaufmann. Ein abwechslungsreicher Job mit vielen Zahlen. Ich war ein Gott im Bedienen des Nummernblocks auf der Tastatur.

In diesem Oktober wachte ich eines morgens auf und konnte meine Extremitäten der rechten Körperhälfte nur sehr eingeschränkt bewegen. Ich wusste natürlich nicht, was los war und konnte mir das nicht erklären. Am Abend zuvor hatte ich Schüttelfrost, erinnere ich mich dunkel. Das ist alles so lange her, ich kann mich nicht erinnern, was im Detail in mir vorging, aber ich glaube, das war ein „scheiße-weitermachen-wird schon wieder“-Ding. Ich hatte also keine Angst oder Panik oder so. Auch meine Familie habe ich nicht informiert. Ich war gerade vom damaligen zuhause in eine andere Stadt gezogen und mein eigener Herr. Außerdem war das Verhältnis damals wie heute kein Leichtes und ich wollte einfach nicht anecken und zusätzlich Unvorhergesehenes hervorrufen. Ich bin also mit dieser Einschränkung noch eine Woche arbeiten gegangen. Der Gott des Nummernblocks war zum Ein-Finger-Knecht verkommen. Man, war das scheiße. Ich konnte meine Arbeit erledigen, nur sehr viel langsamer. Kognitive Beeinträchtigungen hatte ich keine, meine ich, aber ich zog beim Laufen mein rechtes Bein ein wenig nach. Ich gab mir Mühe, dass es nicht so auffällt. Ich wurde jedenfalls nicht darauf angesprochen. Vielleicht war es gar nicht so schlimm.

Am Wochenende musste ich zum Wäschewaschen zu meinen Eltern. Eine eigene Waschmaschine war damals nicht Teil meiner kleinen Unterkunft. Ich schleppte meine Klamotten in einer großen Reisetasche (oder 2?) zum Bahnhof und fuhr mit dem IC nach Magdeburg. Dieser war damals schon immer überfüllt, sowas wie ein Sitzplatz ohne Reservierung war purer Luxus. Die Taschen waren schwerer als sonst, aber ich war jung und Jammern einfach nicht mein Ding. Es gab Kaffee als Mama meine Wäsche in die Maschine steckte. Wir unterhielten uns über dies und das. „Guck mal, ich kann die Kaffeetasse nicht anheben.“ Ich weiß noch als wär' es gestern gewesen, wie Mama mich total entgeistert ansah und fragte, ob ich denn nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte. Wieso ich denn nichts gesagt habe. Wie lange das schon so ist. Und wahrscheinlich noch tausend andere Dinge. Wir saßen sehr schnell im Taxi oder Straßenbahn Richtung Uniklinik. Mama ist Ärztin. „Mein Gott“, dachte ich, „wird schon wieder.“ Ich habe die ganze Aufregung nicht verstanden.

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Arzt mit einer riesigen Spritze. Alter, ich hasse Spritzen. Ich sollte mich quer aufs Bett setzen, die Beine baumelten über der Bettkante. „Wir entnehmen Ihnen jetzt etwas Rückenmarksflüssigkeit, kann sich etwas komisch anfühlen“, sprach er und steckte die fette Nadel zwischen die Wirbel meiner nach vornüber gebeugten Wirbelsäule. Komisch war's tatsächlich, denn plötzlich zuckte mein rechtes Bein ungewollt und zwar so stark, dass ich Eiersalat produziert hätte, hätte vor mir ein männlicher Assistent gestanden. Es war aber eine wache Assistentin, die wohl wusste was kommt. Die Nadel hat irgendeinen Nervenstrang in meiner Wirbelsäule gereizt, deshalb die heftige Reaktion des eigentlich nicht so sehr aktiven Beines.

Wieso reden manche Ärzte eigentlich so wenig mit den Patienten? Am Besten muss man selber Medizin studieren, damit man weiß, was man fragen muss, worauf man sich einstellen sollte und was passieren könnte. Jaja, Fahrradpömpe. Dieses Phänomen sollte ich in 11-12 Jahren wieder öfter erleben dürfen. Egal. Nicht aufregen, es setzten leichte Kopfschmerzen ein, ich sollte mich hinlegen, das geht wieder vorbei, kann aber etwas dauern. Das liegt am entnommenen Nervenwasser, welches nun dem Körper fehlt und nachproduziert werden muss. Dieses sogenannte Liquor würde jetzt untersucht. „Entspannen Sie sich.“ Ich legte mich hin und blickte in das sorgenvolle Gesicht meiner Mutter.

Die Ärzte kamen nach einiger Zeit wieder. Sie faselten was von Lymphozyten viel zu hoch und legten mir eine periphere Venenverweilkanüle (den Ausdruck fand ich am schönsten). Ich bekam eine Kortisoninfusion. Wahrscheinlich mehrere, ich weiß nicht mehr. Ich war, glaub ich, eine Woche im Krankenhaus. Ich kann mich an Vieles nicht erinnern, weil es auch so langweilig war. Zwischendurch durfte ich mal ins MRT, ich wurde an Strom angeschlossen (also ich bekam eine Haube auf den Kopf, wie einer, der auf dem elektrischen Stuhl sitzt, nicht um geröstet zu werden, sondern um die Leitfähigkeit der Nerven zu testen). Im MRT wurden mehrere kleine Herde (also vernarbtes und somit totes Gewebe im Gehirn) festgestellt. Das war jedenfalls spannender als im Bett rumzuoxidieren. Ich hatte eigentlich Besseres zu tun. Meine Lehre hat mir Spaß gemacht. Ich wollte wieder zurück nach Hannover, mein eigenes Ding machen. Rauchen, dem Alkohol frönen und mich ins Delirium kiffen. Ich hatte keine Schmerzen, eigentlich ging es mir doch gut. Ich nahm das Ganze immer noch nicht ernst. Rückblickend betrachtet würde ich natürlich Einiges anders machen. „I wish that I knew alI I know now. When I was younger.“ Wem geht es nicht so?

Am Ende des Aufenthalts war ich wieder vollständig „geheilt“. Nur die Ärzte wussten nicht so recht. Es bestand der Verdacht auf Multiple Sklerose. Ich erfuhr erst später, wieso sie die MS nur verdächtigten. Bei MS müssen wohl immer 2 neurologische Ereignisse, Schübe oder so eintreten bevor der Neurologe eindeutig die Diagnose MS stellen kann. Mangelnde Kommunikation halt. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass die Ärzte damals es einfach nicht besser wussten. 2002 steckte die Forschung bezüglich MS noch in den Kinderschuhen. Seither hat sich glücklicherweise Einiges getan. Man versteht die MS immer noch nicht vollumfänglich, sie ist immer noch nicht heilbar und eine Prognose kann man auch nicht wirklich stellen. Fest steht, auch aus meiner eigenen Erfahrung heraus: Alle Nervengifte unserer heutigen Zivilisation richten Schaden an bzw. haben negative Auswirkungen auf den Organismus eines jeden Menschen. Vor allem Nikotin, Alkohol und Koffein. Umweltgifte lass' ich mal weg denn: MAN WUSSTE ES DAMALS EINFACH NICHT!

Die Krankheit der 1.000 Gesichter ist auch eine Krankheit der 1.000 Konjunktive. Mein Kumpel Timo hat mal sehr treffend formuliert: „Über uns schwebt halt dieses Schwert und es kann jederzeit runterkommen.“ Es gibt Empfehlungen und Ratschläge. Aber ob einem Betroffenen damit tatsächlich geholfen werden kann, muss derjenige selber herausfinden. Selbst wenn es Empfehlungen und Ratschläge gegeben hätte, ich hätt' drauf gepfiffen. Mit 19, grade flügge geworden, mit eigenem Geld und mannigfaltigen Möglichkeiten hatte ich andere Dinge im Kopf. Damals hatte ich noch langfristige Pläne. Und ich wollte nicht auf meine Gewohnheiten und den Spaß verzichten. Mein Leben verlief also weiter wie bisher. Ich hatte nichts geändert. Beim Duschen und Baden ein paar Empfindungsstörungen bzgl. der Wassertemperatur. Die rechte Seite fühlte sich immer etwas kälter an als die Linke. Das war's.

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