29 – Der Zeigefinger und die Anderen

Juli 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Wenn du mit dem Zeigefinger auf andere Leute deutest und denen sozusagen die Schuld für etwas geben willst, besieh dir deine eigene, zeigende Hand genauer. Wohin zeigt der kleine Finger? Wohin zeigt der Ringfinger? Wohin zeigt der Mittelfinger?

Genau! Zurück auf dich! Der kleine Finger könnte, im übertragenen Sinne, für dich stehen. Der Ringfinger für die Gesellschaft und der Mittelfinger für den Staat. Hier ist ein kleines Gedankenexperiment, welches du auf viele verschiedene Lebensbereiche, besonders auf das, was dich eventuell am meisten beschäftigt, deine MS, deine Behinderung, deine dich selbstverständlich total nervenden Einschränkungen, beziehen kannst. Vielleicht geht es Dir
ähnlich, wie es mir eine zeitlang normal erschien. Eben mit dem Finger auf Andere zeigen und die Schuld bei Jenen suchen. Die Schuld an egal was. Ich war mit etwas unzufrieden, ich habe die Schuld bei Anderen gesucht und mit dem Finger auf sie gezeigt. Im Nachhineinbetrachtet war das total ungerecht und unreflektiert, affektiert und egoistisch. Ich bin Mitglied der Gesellschaft, die den Staat ermöglicht. Ich bin einer von Vielen mit ebenso großer Verantwortung für mich selbst und alle, die in dieser Gesellschaft bzw. in diesem Staat leben. Die Rahmenbedingungen, um in diesem Land nebeneinander sein zu können, die
Regeln, die wir uns selbst auferlegen, damit ein weitgehend harmonisches und geordnetes Miteinander überhaupt möglich ist, werden von uns allen, von der Gesellschaft also, gemeinsam und demokratisch, beschlossen. Der Staat, greifbar als die Regierung, also "die da oben", selten wirklich angemessen wahrgenommen und als wertvoll betrachtet, versucht sich in Kompromissen mit der ganzen Welt für ein vernünftiges Weiterbestehen ein- und durchzusetzen. Es geht um Klima, Energie, Nahrung, Bildung, Medizin etc. Hier arbeitet der Staat natürlich mit Teilen der Gesellschaft zusammen. Der gemeine Politiker verfügt ja nicht in jeder Disziplin über Kernkompetenz. Genau wie du und ich. Wir verfügen auch nur über unsere Inselbegabungen, wir sind Bäcker, Mechaniker oder Hedgefondsmanager. Wir haben alle verschiedene Interessen und versuchen unsere Lieben zu schützen, sprich unsere Schäfchen ins Trockene zu kriegen. Aber wir haben gar nicht den Alles erfassenden Blick und sind uns bevorzugt der Probleme in unserem direkten Umfeld bewusst.

Und so kommt es, dass wir uns laut und sehr angeregt über Dinge austauschen, von denen wir eigentlich gar keine Ahnung haben. Wir trauen uns mittlerweile sogar unser übergriffiges Bescheidwissertum überall und jederzeit und sogar anonym kundzutun. Wir entwickeln wenig Verständnis für den Anderen, weil wir oftmals auch gar nicht verstehen wollen. Wir wollen Recht haben und mit dem nackten Finger auf angezogene Leute zeigen. Ja ja, auch
hier gibt es selbstverständlich Ausnahmen und besonnene und reflektierte Menschen, die aber auch nur Menschen, also fehlbar, sind. Ich bin einer davon.

Wenn du nun mit dem Finger auf andere Leute zeigst und meinst die wären schuld weil du denkst du wärest ja ganz vernünftig und hättest alles anders gemacht und vor allem viel besser, denke immer daran, auch du hast an dem Missstand, den du bemängelst, aktiv oder auch passiv mitgewirkt. Die Frage nach Fairness und Gerechtigkeit stellt sich nicht, denn der Mensch ist per se nicht fair und nicht gerecht, vernünftig auch nicht. Das Leben zieht solche Dinge nicht mal theoretisch in Erwägung. Die Einen fliegen zum Spaß ins Weltall,  während Andere, verzweifelt um ihr Leben kämpfend, auf dem Grund des Mittelmeeres verwesen. Ich könnte jetzt also mit dem Zeigefinger auf die Bezos’ und Branson’s und Musk’s dieser Welt zeigen und die Frage in den Raum stellen, ob wir wirklich noch mehr von diesem kostspieligen Luxusscheiß brauchen?

Ganz ehrlich? Ich brauche jemand, der mich in den Arm nimmt und mir sagt, dass er mich lieb hat. Natürlich hat das auch mit der MS zu tun. Durch die ganzen Verluste, die ich erlitten und die Dinge, die ich absichtlich aus meinem Dunstkreis entfernt habe, spüre ich sehr deutlich, was ich alles nicht brauche. Und was alles nervt, das früher normal erschien. Und dass solche Gedanken über "wie funktioniert der Mensch?" mich total beruhigen, sobald ich sie artikuliert habe.

Ich bin nicht behindert, ich bin anders gesund. Und bevor ich behandelt werde, handele ich lieber selber und verlasse mich weniger auf die Anderen. Ich stecke keine Energie mehr in "Du bist schuld! Du hast mir das und das weggenommen." Ebenso ein schönes Werkzeug der Selbstverhinderung, genau wie es auch Erwartung, Anspruch, Stolz und Vorurteil sein können. Ich übernehme lieber die Verantwortung und werde für mich selbst aktiv. Die Zukunft ist so schnell da. Vielleicht jetzt, oder jetzt, oder jetzt, jetzt, jetzt, jetzt. Und so schnell wie die Zukunft da ist, ist sie schon wieder Vergangenheit. Die Gegenwart bekommen wir unter Umständen gar nicht so gut mit. Vielleicht weil wir uns oft mit unsinnigem und oberflächlichen Scheiß beschäftigen. Dabei geht es doch darum den Moment zu leben.

Die Anderen? Die Krankheit?

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