28 – Freak

Juli 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Fühlst du dich manchmal schon wie du aber doch irgendwie auch nicht und seltsam fremdbestimmt aus deinem Inneren heraus? Irgendwie gelenkt, gesteuert und getrieben? Und zwar von einem Moment auf den anderen, ohne erkennbaren oder logisch herleitbarem Grund? Ohne dass dir bewusst ist, was gerade passiert und schon gar nicht warum? Und hast dich hinterher gefragt: “Was war das denn gerade? Wo kam das denn her?”

Ich habe meinen BreitbandInternetBereitstellungsVertrag gekündigt, weil mein Router ständige WLAN-Abbrüche produzierte. Verständlicherweise nervt das total. Der Mensch in der Hotline faselte was von: "Ja also, wenn das mit dem Netzwerkkabel geht, dann ist doch alles okay und der Vertrag von unserer Seite aus erfüllt." Ich hatte nicht die Energie auf ein neues Internetverteilgerät zu bestehen und mich zu streiten. Ich besitze nämlich ausschließlich WLAN Geräte und kein meterlanges RJ45 Kabel. Wirklich interessiert hat es mich wohl auch nicht genug. Vorzugsweise dachte ich wonnevoll stattdessen: Fick dich! Zwei
Monate lang und jedes Mal, wenn das Internet eine Verschnaufpause von  drei Metern einlegte. Das dauerte manchmal eine Viertelstunde. Es betrifft also das vermeintlich essentielle Internet, ohne das niemand mehr leben kann, das aus 'ner Steckdose kommt und sich auf wundersame Weise über die Luft verteilt. Wie so'n Virus. Gestern nun endlich habe ich den Router und mein analoges Telefon, welches ich schon seit über 20 Jahren besitze, deinstalliert. Den Router habe ich bereits zurückgeschickt und so habe ich kein unflexibles Internet in meiner Wohnung mehr. Nachdem ich den Router abgebaut, alles abgestaubt und verpackt hatte, wurde es in mir immer lauter, aber ich konnte nicht verstehen, was dort, ja regelrecht gebrüllt wurde. Als ich schwitzend aus der viel zu heißen Postfiliale trat, lauschte ich konzentrierter in mich hinein. Meine Innerlichkeiten überwarfen sich gegenseitig, jeder wollte der Lauteste sein. "Gott sei Dank, jetzt ist's vorbei, mit der digitalen Völlerei."

Der kleine Alexander UND Es jubelten mir, dem Erwachsenen Alex, zu. Sonst bedenken die mich doch nur mit ihrem Gezeter und Gezerre. Dabei wollen sie mir doch nur ihre Bedürfnisse mitteilen. Ich brauchte eine Weile, also bis jetzt, um zu begreifen, was in mir eigentlich vorgeht. Der kleine Alexander war ständig gelangweilt, unterfordert gradezu und starrte oft lethargisch vor sich hin. Er beklagte sich häufig, nicht gefüttert zu werden. Er ist so hungrig und durstig, ich habe ihn wohl eine lange Zeit vernachlässigt. Ja, ich kannte ihn gar nicht und wusste auch nicht, dass er da ist und meine Zugewandtheit und mein Verständnis, ja meine Hilfe braucht. Ich habe einmal meine Computerecke umgebaut und dort sah er mich plötzlich von unter dem Tisch, halb über den offenen Computer gebeugt, mit großen Augen an. Der kleine Alexander ist vielleicht so 11, 12 oder 13 Jahre alt. Der Ausdruck in seinen Augen war merkwürdig. Anerkennend, aber auch erwartungsvoll. Du kannst dir vielleicht vorstellen wie, naja, schockiert ich war. Und total sprachlos. Aber sprechen muss
ich auch nicht mit ihm, denn wir verstehen uns auch so.

Das Andere, große Unbekannte, aber sehr Mächtige in mir, der sogenannte innere Schweinehund, das Tier oder auch ES, meinem Verständnis nach jedenfalls, war lange Zeit ein sehr lästiger Begleiter meines Lebens. Bis zu dem Zeitpunkt, als ich erkannt habe, dass dieses Tier, dieses Etwas in mir überhaupt existierte und zu jeder Zeit seine garstige Fratze zeigen und mich seine Hirnverbranntheit spüren lassen konnte. Auch Es hat nur seine
Bedürfnisse geltend machen wollen. Sehr viel deutlicher und ruppiger als der kleine Alexander. Früher ist mir gar nicht aufgefallen, dass ich nicht der einzige Bewohner meines Körpers und schon gar nicht mein eigener und alleiniger Herr über meine Gedanken, Emotionen, Gefühle, Hoffnungen und Sehnsüchte bin. Besonders bei den Sehnsüchten setzte Es die Brechstange oft, wiederholt und mit voller Inbrunst an. Es zeigte sich spontan zu absoluten Unzeiten und hielt mich von irgendwelchen Vorhaben ab. Und dabei war Es genau wie Ich, ziemlich unkreativ nämlich. Es zwang mich immer wieder das Gleiche zu tun und zu denken, mich deswegen schlecht zu fühlen, körperlich wie mental. Ich weiß nicht was Es erwartet hat, vielleicht ein anderes, ein befriedigenderes Ergebnis? Ist das nicht die Definition von Wahnsinn? Nach seinem Wirken war ich immer total ausgelaugt. Ich habe Es oft angeschrien. Auch mal so, dass andere es hätten hören können. Letztendlich habe ich mich selber angeschrien. Aus Unbewusstheit. Aus Unwissenheit. Aua.

Vor langer, langer Zeit schon, also so vor vier bis fünf Monaten, als ich in der Reha war nämlich, habe ich ganz unbewusst einen Bumerang auf die Reise geschickt. Diesen hatte ich vorher beladen mit Sorgen, Nöten, Ängsten aber auch Hoffnungen und diesem gleichermaßen schweren, mentalen Ballast. Dieser Bumerang ist nun zurückgekehrt. Aber er hat nichts wieder mitgebracht und deshalb ist er mir auch mit voller Wucht direkt ins Gesicht geflogen. Ich glaube er wollte mir damit sagen: “Jetzt hast du Freiräume, Potential, Kapazitäten und überhaupt Platz geschaffen. Vor allem in deinem Kopf. Schau mal was du
dort und anderswo noch so finden kannst.” Scheint so, als hätte er den über lange Zeit gewachsenen Mist in mir, irgendwo abgeladen. Hinter einer mir nicht vertrauten Grenze vielleicht. Die vormalige Grenze, die Angst und die Scham, erschien mir oftmals wie ein digitales Raster, welches sich eigenständig in meine Wahrnehmung einblendete, sobald ich mich an den Rand meiner Komfortzone bewegte. Als ich dann über meinen Schatten sprang, platzte meine Welt wie eine reife Kirsche, die einen warmen Sommerregen erlebt hat. Von außen ist das Wasser, die Erfahrung nämlich, in die Kirsche, also mich, eingedrungen. Diese frisch entstandene Wunde der Begeisterung ist gerade dabei zu vernarben und die neue, ausgedehnte Grenze markieren. Wozu dieses Sprachbild? Ich war lange Zeit sozusagen viel zu vernagelt im Kopf, als dass ich ja überhaupt Kapazität gehabt haben hätte (hä?). Also ich hatte einfach nicht genug Freiraum, um mich um mein Selbstmitgefühl kümmern zu können. Selbst wenn ich die Begrifflichkeit gekannt hätte, ich wäre niemals über ein: “Ja nee, ist klar.” hinausgekommen und hätte diese Sache einfach aus Überforderung an mir vorbeiziehen lassen.

Ich könnte von mir sagen, dass ich diese beiden Freaks, da ich mir ihrer Existenz nun bewusst bin, im Griff habe. Unter Kontrolle. Die eine Leine locker und die andere straffer in der Hand halte. Dass ich beiden beigebracht habe, nicht mehr eigensinnig auf äußere Reize zu reagieren, sondern auf meine Kommandos zu hören.

Blödsinn. Viel zu absolut. Eine solche Endgültigkeit ist im Umgang mit sich selbst nicht möglich. Unter großen Schmerzen, vielleicht. Das ist wie sich selbst an den Marterpfahl zu fesseln und mit Kriegsbeilen zu bewerfen. Genau das Gegenteil von Selbstmitgefühl, das weiß ich jetzt. Du kannst dich an das letzte Kapitel erinnern?

Es geht darum, ein Bewusstsein zu entwickeln. Zu erkennen, dass wir achso logischen Erwachsenen ja gar nicht jederzeit logisch und erwachsen sind und auch nicht so handeln. Was auch immer das heißen mag. Jeder Mensch hat diese zwei Freaks in sich und es geht darum, diese zu erkennen, wenn Sie sich melden und Verständnis für ihre Bedürfnisse zu entwickeln. Beide sind total ungeordnet und unreif und maßlos. Die Aufgabe des Erwachsenen Alex ist
es, weiche, sprich flexible Leitlinien vorzugeben und ganz individuell, mit beiden, von einem besonnenen Exzess zum nächsten zu ziehen. Die Betonung liegt auf “mit beiden.” Eigentlich nur auf “mit.” Versuchen, gegen sie zu leben bzw. sie anzuschreien oder zu unterdrücken, klappt nicht besonders gut, das habe ich in einigen Kapiteln weiter oben ja schon mal visualisiert. Wie darfst du dir meine jetzige frische Gesinnung vorstellen? Hm. Wirklich sehen kannst du ja nur mich, den Erwachsenen Alex. Aber ich habe immer den kleinen Alexander an der einen und Es an der anderen Hand. Wir sind sozusagen zu dritt! Keiner von uns ist allein und unverstanden. Wenn der kleine Alexander Angst hat, sich schämt oder sonstwie verunsichert ist, ist Alex sofort zur Stelle, um ihn zu trösten und ihm zugewandt und liebevoll zu sagen, dass alles gut ist. Dass ich mich darum kümmere, dass es auch so bleibt und der Kleine keine Angst mehr haben muss.

Ja, und auch Es kriegt sein Verständnis und eine gehörige Portion Empathie von mir. Ich bin immer wieder von seiner Leidenschaftlichkeit und Wildheit überrascht. Früher hat mich diese, also meine innerliche Regung einfach nur überfahren, heute weiß ich, dass es ein inneres Bedürfnis ist, welches am liebsten sofort befriedigt werden möchte. Doch Alex ist der Chef. Ich habe gelernt mit Es zu reden. Ich weiß nicht warum, aber Es sieht aus wie der Minotaurus, mit dem ich am Tisch sitze und Bier trinke. Wir scherzen und lachen und tauschen alte Geschichten, Sentimentalitäten und Erfahrungen aus.

Wir 3 sind nun endlich zusammen. Und wir sind verflucht stark, wir sind mutig, neugierig und all die anderen Dinge, die ich alleine nicht sein konnte. Ich schätze, das alles hat auch, wenigstens ein wenig, mit Selbstfürsorge zu tun. Es tut gut, liebevoll und einfühlsam mit sich selbst umzugehen, freundlich mit sich selbst zu reden. Mit der MS kann ich nun auch besser leben. Ich verfluche mich nicht mehr, wenn mir mal wieder was kaputt gegangen ist oder ich
eine Schramme oder blaue Flecke von irgendwelchen Unfällen davontrage. Unfälle, die nun mal passieren. Oder wenn’s mal wieder länger dauert. Oder ich irgendwas vergessen habe. Oder ich im Juni die Heizung anstellen will. Da kann der kleine Alexander nichts für, da kann auch Es nichts dafür und Ich auch nicht. Wir sind nicht schuld! Und ab jetzt halten wir zusammen!


Es fühlt sich ein wenig so an, mit mir selbst nach Hause zu kommen...

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