26 – Es geht mir gut?

Juni 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Hi du. Ich kann dir nicht sagen, wie scheiße es mir die letzten Wochen geht. Ich muss mich echt überwinden dieses Kapitel zu schreiben bzw. zu diktieren. Ich spreche ja mit meinem PC, sonst ist gefühlt niemand da, der mir zuhören würde. Das ist natürlich sehr übertrieben, aber ich fühle im Moment eine unbestimmte, angespannte, sehnsüchtige aber faulenzerische Leere in mir. Eine völlig planlose Antriebslosigkeit. Ich habe vor einer Woche oder so meinen
Rentenbescheid erhalten. Seitdem ist irgendwie alles an und in mir wie erschlafft. Obwohl ich offiziell erst ab 01.07.21 auch das entsprechende Geld erhalte, aber wer zählt schon die Tage? Jetzt ist doch eh alles egal.

Das Wissen um die Rente und die damit einhergehende finanzielle Sicherheit ist ja nur die eine Seite der Medaille. Juhu, ich brauche nicht arbeiten, keine Erwartungen und Ansprüche anderer Leute erfüllen und bekomme trotzdem Geld am Automaten. Ja okay, es ist kein Betrag, mit dem ich hohe Sprünge machen könnte, aber es ist regelmäßiges und ausreichendes Einkommen, wie ich finde. Überhaupt haben sich einige Dinge nachhaltig relativiert. Die Erwartung an mich selbst z.B. - vor nicht allzu langer Zeit wollte ich immer alles perfekt machen, erst recht mit meinen Einschränkungen. Ich habe mich gehetzt und gefordert und geschunden, bis ich total erledigt und ausgelaugt war. Ich weiß noch, wie ich einmal den Fußboden meiner Wohnung gewischt habe. Am Ende saß ich gegen meine Couch gelehnt auf dem Boden, schwitzend, schwer atmend, völlig erledigt. Glücklich, die Aufgabe bewältigt bzw. die Erwartung erfüllt zu haben. Wie ein behinderter Märtyrer habe ich mich verausgabt. Aber war es das wert? Genau diese Frage stelle ich mir heute des Öfteren. Und die Antwort lautet: Nein! Eine Zeit lang habe ich dieses Nein! lauthals in mich selbst hineingebrüllt. Ich konnte diese Offensichtlichkeit der Selbstzerstörung und Selbstgeißelung nicht begreifen und schon gar nicht in ein gesundes und liebevolles Verhalten mir gegenüber umwandeln. Es war als würde ich mich selbst bestrafen wollen, ohne es zu wollen, ja zu müssen. Das war wie ein Zwang. Ich hatte intellektuell bereits verstanden, dass ich mir selbst unglaublich schwere Belastungen zumutete, und mich damit in Situationen begab, die in der Zukunft vielleicht niemals eintreten würden. Anfangs unbewusst, wollte ich wissen, wie es ist, noch behinderter zu sein, als ich es jetzt schon bin. Also ganz generell körperliche Erschöpfungszustände ausloten, bis zum Ende ausreizen. Egal, ob es die Beine oder die Arme oder das allgemeine Wohlbefinden betraf. Ich habe absichtlich meine Belastungsgrenzen überschritten. Manchmal bestimmt weit überschritten. Wenigstens war mir dann nicht langweilig, wie auch? Ich war ja intensiv mit mir selbst beschäftigt. Aber sehr traurig und niedergeschlagen war ich dabei. Natürlich. Ich war quasi enttäuscht von mir selbst, weil ich meine eigenen Erwartungen nicht erfüllen konnte. Wie beknackt. Und doch total
verständlich. Denn die andere Seite wirft Fragen auf (ich wusste bereits seit einiger Zeit um diese Fragen): Bin ich noch was wert? Was kann ich denn überhaupt noch? Bin ich trotz Allem ein vollwertiges Mitglied dieser Gesellschaft? Muss ich mich jetzt schämen? Mit voller Wucht waren diese Fragen plötzlich präsent, nachdem ich den Rentenbescheid gebührend gefeiert hatte.

Ich kam mir irgendwie schuldig vor. Ich wusste, dass ich nicht schuld bin an der Krankheit und ihrer weitreichenden und tiefgreifenden Folgen. Und doch ist da dieses permanente Gefühl der Unsicherheit gewesen, so als würde ich immer geduckt und mit eingezogenem Kopf durch die Welt gehen müssen. Ich kann nicht sagen, was genau der Auslöser für mein Umdenken gewesen ist. Ich kann es nicht mal ungenau sagen. Vielleicht liegt das daran, dass ich viel unverdautes Gedankengut mit mir herumschleppe. Vielleicht liegt es aber auch an den Erfahrungen mit anderen Betroffenen, die eine scheinbar gelassenere Einstellung zur Krankheit haben. Vielleicht sind das auch irgendwelche Expertisen, Weisheiten, Geschichten, die mir oft in Büchern begegnen und die ich aufgrund eigener Erfahrungen sehr gut verstehen bzw. sogar mitvollziehen kann. Vielleicht alles zusammen. Ich halte generell nicht viel davon, mich ständig mit meiner beschissenen Krankheit zu beschäftigen. Das macht sie nämlich nur noch beschissener. Oder mich selbst zur Krankheit. Das will ich natürlich beides nicht! Dieses krampfige Suchen nach einer praktischen Lösung um die Situation, in der ich mich befinde, ein wenig “normaler” erscheinen zu lassen; ist vergebene Liebesmüh. Denn das JETZT ist das neue “normal”! Sozusagen ist es Zeit zum Verwandeln. Das geht natürlich nicht so schnell wie bei den Power Rangers, wildes Herumfuchteln mit Armen und Beinen reicht nicht und auch so ein doofer Verwandlungsspruch wird mich nicht stärker machen.

Vielleicht klammer ich mich... nein; natürlich klammere ich mich an alte, vor allem eigene Erwartungen und Ansprüche, ich klammer mich an mein altes Ich, an meine alten Gewohnheiten. Ich bin verflucht traurig dass ich so viel verloren habe und nun wie ein Stück Treibholz, nach langer Zeit, an einen unbekannten Strand gespült werde. Mit immer noch einem riesigen Fragezeichen über dem Kopf.

Ich habe mich also eine ganze Weile schon in einer Art Kokon eingesponnen. Mich hinter einen Wasserfall zurückgezogen. Wo mich niemand sieht und niemand hört. Wo ich mich ungestört in meinem Selbstmitleid suhlen kann. Bis ich mich selbst so richtig ankotze. Das ist genau jetzt der Fall. Ich mache jeden Tag das Gleiche. Lustlos, gelangweilt sogar. Es fällt mir sehr schwer meine Behinderung als Vielfalt des Lebens zu erkennen. Mit meinem Los zufrieden zu sein. Aber wenigstens ist Corona gerade gnädig, und lässt die Zügel ein wenig lockerer. Somit habe ich die Chance wieder vor die Tür zu gehen und dort tatsächlich Leute zu treffen und schöne Dinge zu erleben. Auch wenn das Wetter bzw. die Temperaturen mich ärgern werden. Mit Jasmin werde ich nun endlich ins Varieté gehen. Die Karten dafür haben wir vor anderthalb Jahren gekauft. Kaan und Jerre und Anhang kommen zum Grillen vorbei. Vorher wollen sie noch meinen Garten auf Vordermann bringen. Das wird bestimmt lustig. Auch wenn ich mit der Gesamtsituation unzufrieden bin und meine neue Freiheit noch nicht begriffen habe, wird irgendwann die Frage zur Tatsache werden. Es geht mir gut. Ich glaube fest daran.

Danke, dass du mir zugehört hast...

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