25 – Ich

Januar 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Wenn du mal alle deine Gedanken, all deinen mentalen Ballast, das verstrickte Knäuel um die Nägel in deinem Kopf herum, dieses rohe und unverdaute Wiedergekäute, jenes sogenannte Gedankenkarussell, das berühmte Kopfkino, wenn du das alles mal auflöst und kondensierst, was bleibt da übrig?

Nachdem ich von der Reha wieder nach Hause zurückgekehrt bin, die Wohnungstür hinter mir schloss und mit meinen Gedanken nun wieder alleine bin, fühlt es sich so an als wäre die ganze Welt sehr viel kleiner geworden. Es fühlt sich ein bisschen so an als wäre ich wieder in die Zeit nach meinem ersten Schub zurückversetzt. Eine große Orientierungslosigkeit habe ich mitgebracht, ich bin unzufrieden und weiß nicht mal so richtig womit. Mein Körper macht schnell schlapp, ich habe mich nicht, wie versprochen, bei einer Freundin gemeldet und wenn ich in den Spiegel schaue, bin ich betroffen und verunsichert ob dem was ich da zu sehen glaube.

Die neue Episode meines Lebens beginnt wohl holprig, vermute ich. Irgendwie scheinen sich meine körperlichen Gebrechen auf die linke Körperhälfte auszuweiten. Ich glaube das mit der Rente wird wohl nicht so leicht. Fiese Gedanken schwirren mir durch den Kopf. Bin ich als Jungrentner mit meinen 37 Jahren denn überhaupt noch was wert? Was werde ich mit meiner im Überfluss vorhandenen Zeit anfangen? Werden die diversen Anträge, die ich
unglaublich gewissenhaft und hoffnungsvoll eingereicht habe, von Erfolg gekrönt sein, soll heißen, kommt am Ende genug Geld dabei rum sodass ich ein schönes Leben führen kann? Was ist überhaupt ein schönes Leben unter diesen Voraussetzungen für mich? Neue Episode! Das ist nichts anderes als wieder mal ein Neuanfang. Nun zum fünften Mal in meinem Leben. Ich bin deswegen fast schon ein bisschen gelangweilt, auf jeden Fall müde davon.

Nein, ich kann mich nicht freuen dass ich der alleinige Entscheider bin. Ich habe Angst davor zu versagen, ich habe Angst dieser neuen Episode nicht gewachsen zu sein, alles falsch zu machen und mir selber unnötig Steine in den Weg zu legen. Zum wiederholten Mal bin ich mir meiner Selbst total unsicher und weiß nicht wo es langgeht. Es geht schon wieder darum selbst zu entdecken... nein, mich selbst neu zu entdecken. Aber diesmal ist es anders, ich weiß wie das geht und was ganz grob auf mich zukommt. Und dass ich mir keinen Stress machen muss sondern geduldig mit mir sein darf. Auch wenn ich vielleicht gerade feststecke irgendwo, kann ich mich darauf verlassen dass der Fluss mich irgendwann wieder freispült und weiter voranbringt. Das sind Gedanken die sich nur im intellektuellen Teil von mir abspielen. So richtig begriffen, naja. Angespannte Sorglosigkeit. Ja ich denke das triffts. Das mit der Sorglosigkeit ist schnell erzählt. Ich lasse mir sehr großzügig Zeit und erledige nur wenige Dinge am Tag. Eigentlich “arbeite” ich nur zwischen 8-13 Uhr. Dazu zählt Aufstehen und Frühstücken. Wenn ich das geschafft habe, bin ich manchmal schon sehr stolz auf mich. Und zufrieden. Aber die Anspannung lässt mich eine ganze Weile lang Zweifeln, Denken, Innehalten. Dem entfliehe ich natürlich wie gehabt mit mit Spezialkräutern gestopften Einwegtüten. Diese eine Sucht hält mich von einer Anderen ab. Von Sex. Ich habe alles Spielzeug weggeschmissen und Viagra verbraucht. Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie frustrierend und ernüchternd es sein kann Etwas zu suchen aber nicht zu finden, Etwas zu hoffen aber nicht zu kriegen, Etwas zu versuchen und zu scheitern. Ohne zu wissen, nicht mal zu ahnen, was dieses Etwas überhaupt ist.

Es war gerade Ostern, zum zweiten Mal im Corona-Lockdown. Meine Eltern haben mich besucht. Mama hat sich wieder mal überschlagen und viel zu viel gekocht. Es gab eine Art Weihnachtsgans zu Ostern mit Rotkohl und Grünkohl, Kartoffeln und Klößen und Kompott. Ich hatte leider sowas von überhaupt gar keinen Hunger, meine Eltern schon. Sie wollten mich überraschen und haben mich darum nicht informiert dass es eine richtige Mahlzeit zu futtern gibt, wenn sie mich besuchen kommen. Ich hasse Überraschungen. Erst recht wenn sich, gerade meine Mama, unglaublich viel Mühe macht und aufwendig Dinge für mich wahr werden lässt. Sie sagte zu mir “jetzt lach doch mal und tu wenigstens so, als wenn Du Dich freust”. Ey nee, sowas kann ich gar nicht. Das hat für mich mit Heucheln, Blenden und Lügen zu tun. Das bin ich nicht. Später am Tag habe ich mich selbst reflektiert und festgestellt dass
ich vielleicht so bin weil ich selbst keine aufwendigen/mühevollen Dinge mehr machen kann. Letztes Jahr habe ich zu dieser Zeit Torten gebacken. Das könnte ich jetzt wohl nicht mehr, ich habe es aber auch nicht versucht. Vielleicht sollte ich das mal wieder machen. Der Besuch war ziemlich zäh. Irgendwie wussten wir alle nicht so richtig was mit uns anzufangen, wie wir miteinander umgehen sollten. Ich kann nicht sagen ob das an der MS oder an viel älteren Dingen liegt. Vielleicht beides. Vielleicht hat die MS ein wenig die Fenster geputzt, vielleicht bei uns allen, vielleicht hat sie uns auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und absichtlich hart aufschlagen lassen. Ich habe nichts von dem schönen Essen dabehalten. Mama musste alles wieder mitnehmen. Das war bestimmt nicht so leicht für sie, sollte sie enttäuscht gewesen sein, hat sie mich davon nichts spüren lassen. Beim Abschied zwischen Tür und Angel sagte Mama sinngemäß: “schön, dich stehend gesehen zu haben”. Sonst sehen wir uns immer nur wenn wir miteinander skypen und dabei sitzen wir natürlich die meiste Zeit über. Dieser Satz machte erst ein paar Stunden später was mit mir. Sie meinte das bestimmt nicht böse und wollte mir auch bestimmt keine schlimmen Gedanken machen. Aber ja richtig, wie lange stehe ich denn noch?

Psychisch mache ich mir da wenig Sorgen, ich bin in guten Händen, fühle mich verstanden und getröstet. Und ich vermute, ich mache mich auch nicht so schlecht weil ich ein sehr offener und sensibler und empathischer Mensch bin. Ich denke und hoffe natürlich das bleibt mir erhalten selbst wenn ich physisch nicht mehr stehen kann. Ach, wieso male ich immer den Teufel an die Wand? Bei der ganzen psychischen Widerstandskraft (man sagt wohl Resilienz dazu), die ich mir über die Zeit angeeignet habe, bleibe ich ja doch irgendwo Mensch. Ein Mensch hat Angst, macht sich Sorgen, hat Hoffnungen und so weiter und so fort. Er ist nie unbeeinflusst. Naja, es gibt bestimmt Ausnahmen. Wie immer. Als ich z.b. den Text “Berufsunfähig” schrieb bzw. als ich für die Versicherung ausführlich meinen Status Quo, meine persönliche Befindlichkeit, beschreiben musste. Da floss unendlich viel Energie in mir. Einmal weil ich wollte dass meine Antwort auf deren Verlangen gut und verständlich würde aber auch weil ich mich selbst einer schwierigen Situation zurückerinnern und reflektieren musste. Ich musste ehrlich beschreiben was ist. Dafür musste ich auch verflucht ehrlich zu mir selbst sein. Das war echt schwer und diese ”Aufgabe” habe ich bestimmt drei oder vier Wochen vor mir hergeschoben. Ich habe Steuererklärung gemacht, nur um mich nicht mit mir selbst beschäftigen zu müssen. Das war nicht so schön. Aber seit ich den Berufsunfähigkeits- und Rentenscheiß hinter mir habe, möchte ich die Musik nicht mehr ausstellen. Jetzt heißt es natürlich abwarten, die Zeit nutze ich zum Tanzen. Wer weiß, vielleicht waren all diese verkopften Gedanken unnötig, vielleicht waren sie aber auch unvermeidbar, um mit mir selbst wieder synchron zu werden. Das dauert vielleicht eine Weile und die Gedanken werden weiter ihr Spiel spielen, immer wieder von vorn. Ich darf dabei gelassen sein. Ich darf es mir in Ruhe klar machen.

Was bleibt übrig? Ich!

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