23 – Freiraum

Januar 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Warst du schonmal beim Neurourologen? Also nicht beim klassischen Urologen, der an jeder Ecke zu finden ist. Sondern beim Neurourologen. Das sind auch Urologen, die aber mit sehr viel mehr Untersuchungsgerät aufwarten können. Davon gibt es wohl kaum zwei Handvoll in Deutschland. Wegen der MS sind die natürlich sehr viel kompetenter, wenn man neurologische Probleme mit der Blase hat. Nun, ich habe, oder nunmehr hatte, sehr große, vor allem nervige Probleme mit der Blase. Den Tag über rannte ich 15 bis 20 mal aufs Klo, und nachts waren zwei bis fünf Mal die Regel. Das bindet natürlich enorm viel Zeit und verhindert einen tiefen, erholsamen, sprich wertvollen Schlaf. Gerade hinsichtlich meiner Fatigue war es mir ein großes Bedürfnis, mich um eine stärkere Blase zu bemühen. Wir haben hier in der Reha ein Medikament ausprobiert, dass mich unfassbar mit seinen Nebenwirkungen ärgerte. Kurzatmigkeit und Hautausschlag, Zeug, das kein Mensch braucht. Mein Arzt organisierte also einen Termin beim Neurourologen in einer anderen Klinik nebenan und somit kam ich in den Genuss so einen richtigen Halbgott in Weiß
kennenzulernen. Einen Chefarzt, der mir von vorne bis hinten alles erklärte, um mir am Ende zu offenbaren, dass er mir einen Katheter in die Harnröhre stecken will. Als er das Wort Katheter aussprach, hatte ich sofort ein Bild in meinem Kopf und alles was er vorher erzählte, vergessen. Es zog sich bei mir alles zusammen, kräuselte sich und es rollten sich die Fußnägel hoch. Es blieb quasi nur noch schrumpelige Vorhaut übrig. Haha! Ungeachtet dessen habe ich mitgespielt. Trotz meiner exorbitanten Abneigung gegen Fremdkörper in und an meinem Leib, habe ich mich auf die Untersuchung eingelassen denn der Gewinn ist, war verlockend. Es gibt Dinge, da muss man eben durch. Und auch sowas sind Erfahrungen, die den Menschen prägen. Ich wurde also in den Untersuchungsraum gerufen. Als Erstes, natürlich, Urinprobe! Dafür gibt es einen speziellen Stuhl mit Loch in der Sitzfläche. Ich saß dort sehr bequem und ließ einfach laufen.

Mein Urin sammelte sich, sozusagen trichterförmig, in einem Messbecher am Boden. Soweit so einfach. Dann wollte die Assistentin mich mit unten ohne auf der Pritsche. Ich will hier gar nicht so sehr in die Details eingehen, doch sie hatte ganz schnell den kleinen Alex in der Hand, desinfizierte ihn und fummelte den Katheter hinein. Ich musste ein paar mal husten damit das auch flutschte. Ich weiß jetzt wie es ist, ein Stück irgendwas in der Harnröhre zu haben. Dann wurde Wasser in die Blase durch die Harnröhre gepumpt um zu gucken wie belastbar sie ist. Das war ein merkwürdiges Gefühl, sie klopfte auch noch ein wenig auf meinen Bauch herum, also da wo die Blase sitzt. Danach ließ sie das Wasser wieder ab. Endlich zog sie den Katheter wieder heraus, was sich für mich unangenehmer anfühlte als das Reinstecken. Hm. Nebenbei hatte sie mein Miktionsprotokoll auseinandergenommen und berechnet, dass ich zuviel trinke. Tja, und dann haben wir uns mit Smalltalk die Zeit vertrieben und auf den Herrn Chefarzt gewartet. Ich lag fast eine dreiviertel Stunde mit Hose runter auf dieser Pritsche. Ärzte und Dealer haben ein komisches Verständnis von
Zeit. Die Heizungen waren knapp unter der Decke angebracht, es war also nicht sehr behaglich. Am Ende bestätigte mir der Onkel Doktor was ich schon längst unbewusst wusste, Blase technisch in Ordnung, Nieren wunderbar aber der Pinkeldruck ist ein bisschen lasch. Naja. Ich bekam die Empfehlung, mich zukünftig neurourologisch betreuen zu lassen, und dass ich regelmäßig zur Restharnkontrolle gehen solle. Es dauerte keine zwei Sekunden bis ich mich innerlich entschied: Näh, fällt aus wegen is nich, kommt gar nicht in Frage! Eine solche Untersuchung müsste ich zweimal im Jahr machen, das heißt zweimal nach Hamburg fahren um dort den "richtigen Arzt" aufzusuchen, um irgendwas mit einem niedergelassenen Urologen in meiner Nähe zu verhackstücken, neues Medikament minutiös beobachten, und oft zur Restharnkontrolle gurken. Das ist mir zu aufwändig. Ich würde mich viel zu sehr mit meiner MS und ihren Auswirkungen beschäftigen. Genau das will ich eben nicht! So schlimm ist, gefühlt, mein Problem mit der Blase auch wieder nicht. Dann lebe ich lieber mit den häufigen Klogängen, den Windeln und Einlagen und einem Trinkplan. Das geht sich schon irgendwie aus. Mit seiner Anamnese lief ich dann also wieder zu meinem Stationsarzt, der mir noch ein anderes Medikament aufdrückte. Ja, was soll ich sagen? Gestern war ich insgesamt nur 5 mal auf der Toilette und in der Nacht nur einmal. Ich habe auch viel besser geschlafen. Keine Nebenwirkungen! Unglaublich, manchmal ist es einfacher als gedacht. Es ist auf einmal so viel mehr Lebensqualität wieder da. Ich hoffe sehr das bleibt so. Das Medikament muss sich ja auch erst einmal in meinem Körper etablieren, vielleicht wird es sogar noch besser. Ähnlich ging es mir mit dem Blutdrucksenker. Hierzu habe ich zwei Medikamente ausprobiert, das Erste ging gar nicht und auch beim Zweiten musste ich Geduld beweisen. Aber jetzt bin ich sehr viel ruhiger als vorher und fühle mich nicht mehr so unter Druck. Auch der Rollator ist mir eine riesengroße Hilfe.

Die Reha hat unglaublich viel Freiräume, Potential, Kapazitäten und überhaupt Platz geschaffen. Vor allem im Kopf! Wir haben zusammen einige für mich total nervigen körperlichen aber auch psychischen Unzulänglichkeiten ein beträchtliches Stück abgebaut. Ich freu mich so. Ich habe hier natürlich auch Erfahrungen gesammelt die vielleicht nicht so angenehm waren. Mit Menschen, Medikamenten, Windeln und Gehhilfen. Aber diese Hilfsmittel sind meine Freunde. Und wie das mit Freunden halt so ist, ich bin sehr glücklich darüber, dass sie da sind.

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