Seit ich meine Krankheit nicht mehr ignorieren kann, hat sich die Heimat meines Seins gravierend erweitert. Ich lebe nicht mehr nur in der Alltagsrealität, sondern entspanne mich oft in andere Dimensionen hinein. Gerade die, ich nenne sie die energetische und die geistige Dimension, ist seit ca. einem Vierteljahr gegenwärtiger denn je. Scheint so, als würde ich mich hinter meiner Krankheit verstecken, um Schutz vor ihr und ihren Auswirkungen zu suchen.
Die MS ist eine beschissene Erkrankung, die unglaublichen Schaden anrichtet. Psychisch wie physisch. Ich dachte lange Zeit, die psychische Komponente im berühmten Griff zu haben. Unbewusst aber drehte es sich um eine einzige, unangenehme Frage: Nehme ich den Kampf auf oder nehme ich die Krankheit und die daraus entstehenden, möglichen Einschränkungen, wie immer die aussehen könnten, an?
Ich war noch nie ein optimistischer Mensch im Sinne von: das wird schon. Egal was gerade zu überlegen, zu planen oder zu tun war, ich habe immer kritisch und neutral jedes Vorhaben beäugt. Von vornherein kleinlaut aufgegeben, mich in die Defensive zurückgezogen, mich Schutz suchend verkrochen, habe ich nie. Im Gegenteil, ich war mir zu keiner Zeit zu schade für irgendwas, selbst wenn dies eine Art Untergang für mich bedeutet hätte. Ich hielt mich immer für jemanden, der sehr stark belastbar ist und Vieles aushält. Ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Ein Märtyrer sozusagen.
Dieses Selbstbild habe ich lange Zeit auch auf meine Krankheit projiziert. Ich habe gute Ratschläge und auch diese Texte mit vermeintlich progressiven Entwicklungen meines Selbst in Verbindung gebracht und als Erfolg verkauft. Ich hörte mich lange Zeit zu oft selbst in meinem Kopf und habe meinen wiederkehrenden Gedanken zu sehr Glauben geschenkt. Geflüchtet habe ich mich in Träume, in die Probleme Anderer, um damit meine eigenen nicht wirklich annehmen, mich nicht um sie kümmern zu müssen. Eine geistige Schutzhaltung habe ich damit eingenommen. Eingeredet habe ich mir die tollsten Dinge, gehofft habe ich, obwohl ich sowas wie Hoffnung ablehne. Meine Selbstwahrnehmung wurde durch meine Texte getäuscht aber gleichzeitig auch gestärkt. Erstaunlich, diese Paradoxien.
Ich bin nun also seit 5 Tagen in der Reha. Nicht aus freien Stücken, sondern weil es nicht mehr ging und es überhaupt höchste Zeit war! Ich bin ein körperliches Wrack, jedenfalls nehme ich mich zurzeit selbst so wahr. Der Arzt, der die Aufnahmeuntersuchung bei mir machte, schüttelte ganz oft den Kopf ob meiner körperlichen Schwäche. Wie konnte es nur soweit kommen? Ich verließ sein Arztzimmer mit einem mulmigen Gefühl der totalen Verunsicherung. Ich hatte auf einmal so viele Zweifel und so viele Fragen im Kopf, die sich auch in den nächsten Tagen nicht auflösen sollten.
Die Physio- und Ergotherapeuten machten sehr einfache Übungen mit mir, die eigentlich nur der Einschätzung meiner bestehenden Fähigkeiten dienen sollten. Innerlich habe ich geweint, schockiert von mir selbst. Auf dem Ergometer fahre ich mit wenig Widerstand ziemlich langsam und bin froh mein Soll erfüllt zu haben. Neben mir ackert ein junges Mädchen mit doppeltem Widerstand fast doppelt so schnell wie ich. Ich habe aus Spaß mal probiert mitzuhalten, keine Chance! Wie also gehe ich damit um, ohne den Kopf zu verlieren? Ich weiß es noch nicht.
Tatsächlich bin ich unglaublich froh in der Reha zu sein. Die bloße Anwesenheit hier und die Abwesenheit von zu Hause, die Abwesenheit jeglicher Verantwortung, für mich und Anderes, arbeitet intensiv in meinem Hirn. Klar, Reha ist nicht freiwillig, Reha bedeutet, etwas ist grundlegend im Argen. Aber Reha funktioniert am besten, wenn man loslässt. Von den Dingen da draußen, um die gesamte zur Verfügung stehende Energie hier drinnen nutzen zu können! Meine Leidensgenossen sind natürlich auch Ansporn für mich. Unfassbar, welche Energie aus guten und verschiedenartigen Gesprächen entstehen kann.
Die anfänglichen, körperlichen, der Ausgezehrtheit geschuldeten Befindlichkeiten, die selbstverständlich auftreten, da ich mich seit Unzeiten fast nur in der Horizontalen aufgehalten habe, motivieren mich zusätzlich zu mehr. Ich bin hungrig geworden. Ich weiß noch, wie lebendig ich mich gefühlt habe am Ende der letzten Reha 2018. Ich hätte Bäume ausreißen können. Ein unbeschreibliches Gefühl, da ich ja das Gegenteil auch sehr gut kenne. Mattigkeit, Ausgelaugtheit und total motivationslos in der Gegend rumoxidierend. Nur noch ein Schatten.
Die Voraussetzungen hier sind optimal, um endlich wieder zu leuchten. Ich darf annehmen, nicht übertreiben und realistisch bleiben. Überschwänglicher Optimismus hilft hier und mir nicht weiter. Pessimismus schon gar nicht. Nur mit klaren Ansagen und ernsthaftem Arbeiten, an mir selbst nämlich, habe ich die Chance mich selbst wieder zum Leben zu erwecken.