19 – Eigentlich

Januar 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Eigentlich ist eigentlich kein Wort. Dieses Wort bedeutet für mich eine Relativierung, eine vorausgeschickte Entschuldigung für sich selbst.

Prophylaktisches Rechtfertigen für eine Sache, von der man selbst vermutet, dass das Gegenüber vielleicht nicht wohlwollend auf das Gesagte reagieren könnte. Oder die Wahrheit vor sich selbst in diffusem Zwielicht erscheinen lässt. Nichts Halbes und nichts Ganzes. Beispiel: ”Also eigentlich ist
es ja ein Unding den Ferkeln die Hoden abzureißen aber ich esse ja zu gern Fleisch.” Uuh krass, aber auf den Punkt.

Eigentlich freue ich mich wie Bolle auf die Reha, die nun heute beginnt. Ich habe bereits im März 2020 eine stationäre Rehabilitation beantragt. Diese wurde im August genehmigt, ich sollte ursprünglich im Dezember 2020 in der Wicker Klinik in Bad Wildungen vorstellig werden. Eigentlich. Es kam das neue Medikament und natürlich Corona dazwischen. Die Damen vor Ort sind sehr nett und haben meinem Wunsch entsprochen, doch erst im Januar '21 anreisen zu dürfen. Nun ist es also soweit. Von der Rentenversicherung habe ich alle Unterlagen und Informationen bekommen, um meine Reise mit der Deutschen Bahn nach Bad Wildungen zu verwirklichen. Es ist das erste Mal, dass ich mit der Bahn zur Reha fahre. Zu meiner Ersten in Bad Camberg bin ich mit dem Auto gefahren. Das waren ca. 400 km in eine Richtung. Bad Camberg liegt mitten im Taunus, es ist sehr hügelig und kurvig dort. Diesmal wird es also Bad Wildungen. Das sind nur ca. 150 km aber auch dort kenne ich mich nicht aus. Eigentlich halte ich mich für einen guten Autofahrer aber eigentlich bin ich es schon lange nicht mehr. Gerade im Dunkeln mit den vielen Lichtern habe ich immer das Gefühl überfordert zu sein und mit Absicht geblendet zu werden. Auch stressen mich Gegenden in denen ich mich nicht auskenne. Ich bin immer froh angekommen zu sein und das Auto irgendwo abgestellt zu haben, mir egal, wie ich parke, hauptsache ich habe den Anker geschmissen. Manchmal treffe ich den Gang nicht richtig, manchmal vergesse ich das Licht einzuschalten, manchmal habe ich Probleme mit den Pedalen. Ich denke oft daran,den Führerschein abzugeben und Fritzi zu verticken. Den Kleinen muss ich wohl
erstmal sauber machen weil so kriege ich vielleicht nur noch einen symbolischen Euro für ihn. Das war früher auch mal anders. Ich lege generell viel Wert auf Sauberkeit und Ordnung aber das Auto musste nach mir als Erstes unter der MS leiden. Ist ja eigentlich auch egal, solange das Werkzeug funktioniert. Jetzt fahre ich also mit der Bahn, ich habe mir extra einen ganzen Tag freigehalten, um meine Reise zu koordinieren. Also Reiseplan raussuchen, Tickets über eine Spezialabteilung der DB besorgen, Corona Vorschriften zur Kenntnis nehmen, mit den Leuten vor Ort verhandeln; ich war nach 2 Stunden fertig. Glücklicherweise, denn ich bin in letzter Zeit wahnsinnig schnell erschöpft.
Ich finde, all diese Möglichkeiten, die uns versehrten Menschen zur Verfügung stehen und wie diese organisiert sind, sind eine große Unterstützung, Hilfe, Erleichterung und auch Linderung für unser Leid. Ein Segen sozusagen. Ich habe es jedenfalls als einen solchen erkannt. Auch wenn ich mich nun nicht mit dem Auto ins Gebirge zittern muss, so bin ich doch ziemlich aufgeregt und gespannt wie ich diesen Weg beschreite. Denn eigentlich ist der Weg dorthin das Eigentliche für mich. Das ist wie ein Test. Ein Test meiner noch vorhandenen Fähigkeiten. Mir ist egal ob Familie oder Freunde irgendwelche Kosten übernehmen würden damit ich bequem ans Ziel komme. Der verfluchte Weg ist das Ziel! Das war schon so als ich im Juli 2020 spontan zur Zugspitze gefahren bin. Eine tolle Erfahrung! Sowas will ich wieder erleben! Okay, es ist jetzt Januar und gefühlte 20 Grad kälter und sehr grau aber diese äußeren Umstände lenken mich nicht ab. Ich habe gestern den ganzen Tag einiges vorbereitet, Sachen gepackt, Wäsche gewaschen. Ich bin körperlich ziemlich fertig und war ob meiner Kraftlosigkeit einige Male den Tränen nah. Mit Absicht gehe ich voll rein. Eigentlich habe ich das überhaupt nicht nötig, doch dieses Verhalten ist mir eigen. Es ist mein Wesen. Es ist meine ganz eigene Art das Leben zu spüren. Ich will das so.
Es ist 4:07 Uhr und ich bin hellwach. Mein Bus fährt um 6:43 Uhr. Eigentlich?

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