6 – 69 Tage

Oktober 2019

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

... bin ich nun krankgeschrieben, sagt mein Kalender. Ich muss langsam endlich mal wieder den Arsch hochkriegen. So aktiv wie ich in der ersten Zeit meiner Krankschreibung gewesen bin, umso langweiliger bin ich jetzt. Heute bin ich aufgestanden, habe ein Brot gebacken, ein bisschen Abwasch und habe den ganzen Tag nur vor der Flimmerkiste rumgehangen. Ich kann mich wirklich zu überhaupt nichts aufraffen. Heute morgen hat richtig schön die Sonne geschienen. Habe mich gleich viel besser gefühlt und wollte eigentlich spazieren gehen. Ich bin echt nicht hochgekommen. Das geht mir schon ein paar Tage so. Freitag, Samstag, Sonntag habe ich gekifft. Da passiert eh nicht so viel. Die zwei, drei Tage danach, um wieder runterzukommen sind auch total vertane Zeit.

Warum kiffe ich überhaupt? Warum habe ich so viel in der Vergangenheit gesoffen? Warum zum Teufel noch mal rauche ich? Diese drei Sachen werde ich nicht los, ich gebe mir Mühe, aber ich schaffe es nicht. Das ist so sinnlos. Eigentlich stört das nur mich selbst. Wer anders kennt mich ja nicht großartig, da ich nur selten die Kuhle verlasse. Wieso sperre ich mich selbst ein?

Tatsächlich bin ich manchmal mit anderen Menschen zusammen und stelle fest, dass ich eigentlich doch einigermaßen gesellschaftsfähig bin. Ja ok, oberflächliches Blabla geht mir auf den Sack und wenn ich kein Thema habe, das irgendwie von Belang ist, dann habe ich auch keine Lust auf Reden. Manchmal sitze ich meinem Gegenüber gegenüber und das Gespräch zieht sich wie Kaugummi. Fehlt mir das Interesse an den Menschen? Und ja, die Frage meine ich tatsächlich ganz allgemein. Mag ich keine Menschen?

Auf jeden Fall hasse ich die Menschen nicht, aber ich stelle immer wieder fest, dass mir doch sehr viele lästig sind. Ich versuche dann mich mit Zurückhaltung aus der Situation zu retten und überlasse gerne anderen das Wort. Wer reden will, soll reden. Nicht dass diese Leute an Speichelproduktionsüberfluss verrecken. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Also bin ich doch ein Goldjunge, oder was?

Ich habe letzte Woche mein altes iPad auf eBay verkauft. Da kam so ein Mensch, der hat das gekauft. Den angebotenen Kaffee hat er dankend abgelehnt und ist zweieinhalb Stunden später wieder gegangen. Denn so lange habe ich mich mit ihm unterhalten, über Gott und die Welt. In der Zeit hätten wir sicherlich mehrere Kaffee trinken können. Es ist so selten, dass ich Menschen treffe, die eigentlich noch ein bisschen länger in meinem Leben hätten bleiben können. Das passiert so super selten. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich nicht vom Sofa hoch komme.

Die Situation ist ja eigentlich auch total bescheuert. Im Sommer komme ich nicht hoch wegen dem Scheiß Uthoff-Syndrom (das ist die Verstärkung der MS aufgrund der höheren Temperatur). Und wenn es dann angenehm bzw. kalt wird, komme ich nicht hoch wegen Bequemlichkeit und eigener Blase und so. Alle anderen ziehen weiter und ich bleibe stehen. Ich fühle mich manchmal als würde ich ertrinken. Als würde ich gegen Windmühlen kämpfen.

Morgen habe ich wieder Psychotherapie. Mit meiner Therapeutin kann ich mich super unterhalten. Ich habe tatsächlich ein Hochgefühl, wenn ich aus ihrer Bude schlendere. Das hält für, sagen wir, drei vier Tage an. Ich bin schneller wieder in der Schleife drin als ich "Blaubeerkuchen" sagen kann. Ich muss irgendwas finden, mit dem ich mich nachhaltig beschäftigen kann. Und vor allem beschäftigen will. Früher wurde mir immer gesagt, was ich denn machen soll. Das ist schon eine lange Zeit nicht mehr so, aber es war immer jemand um mich herum, der mir den entsprechenden Tritt in den Arsch gab. Dass so jemand wieder in mein Leben tritt, ist im Moment echt nicht abzusehen. Ich habe keinen Job und treffe und höre also keine anderen Menschen mehr. Ich bin krankgeschrieben, brauche also nur zur Verlängerung der Krankschreibung vor die Tür. Und ich habe verdammt nochmal Multiple Sklerose und dadurch überhaupt keinen Bock… ja, keinen Bock auf nichts. Selbst diesen Text diktiere ich nebenbei meinem Tablet. Das bockt nur, weil ich hier ab und zu mal eine virtuelle Taste drücken darf.

Mein Arzt sagt, frische Luft und Bewegung hilft. Vielleicht liegt das aber auch an den Antidepressiva, die ich nehme. Habe gerade den Beipackzettel noch einmal durchgelesen. Das Medikament kann Störungen der Libido und Orgasmusprobleme verursachen. Da haben wir es! Mein Mojo ist weg! Für einen 36-jährigen männlichen Vertreter der menschlichen Spezies extrem unbefriedigend. HAHA unbefriedigend hat er gesagt! Was mache ich denn jetzt verflucht noch mal? Keiner da, der mich fordert. Kann ich das denn nicht alleine? Muss ich denn mein Glück an andere knüpfen? Wieso kann ich mir nicht selbst genug sein? Bin ich mir nicht selbst gut genug? Was überhaupt sind das für Fragen?

Wenigstens renne ich nicht mehr mit diesem Gedanken-Karussell im Koppe durch die Gegend. Das war scheiße. Vorher war ich bei allem, was ich gemacht habe, mit den Gedanken in der depressiven Sickergrube. Generell ist meine Stimmung sehr viel heller als vor dem Antidepressivum. Also gute Laune, aber keinen Bock auf Sex, um es mal ein wenig blumiger auszudrücken. Also Bock habe ich schon, aber wenn das Werkzeug nicht funktioniert, dann habe ich doch wieder keine Lust. Würde ich folgerichtig das Medikament weglassen, wäre ich wieder viel zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt. A vicious circle quasi. Wenn ich in diesem Zustand jemandin kennenlernen würde, die sich mit mir auf das Abenteuer "Sex mit Alex" einlassen würde, würde ich wahrscheinlich aus Scham davonrennen.

Wer etwas will, findet Wege; wer etwas nicht will, findet Gründe. Also was will ich denn eigentlich? Wege oder Gründe? Ach heute nicht mehr, ich gehe jetzt Kippen kaufen…

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