5 – Ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben noch anfangen soll

 

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Ich habe dieses sehr belastende Handicap. Ich habe niemanden, dem ich zugewandt bin, kann mich außer bei meiner Therapeutin oder Selbsthilfegruppe selten umfassend mitteilen. Betroffenheit, ja, tiefes Verständnis, vielleicht. Wie auch? Ich bin in dieser Sache allein. Das macht extrem einsam und isoliert mich vom großen Rest der Gesellschaft. Ich gebe mir verdammt viel Mühe, Freude oder gar Spaß bleibt dabei oft auf der Strecke. Ich begebe mich mit Absicht in Situationen, die für gesunde Menschen keine Herausforderung darstellen. Aber eben genau das ist es meistens für mich. Eine Herausforderung. Immer wieder. Die Reserven, die Blase, Menschen, Lärm, Licht und nicht zuletzt Stress. All das erzeugt innere Unruhe und ein oft auftretendes Unwohlsein gefolgt von Passivität, Ablehnung und Stimmungsschwankungen. Das geht innerhalb von Sekunden.

Ich habe letztens auf der Arbeit einen schweren Ausraster gehabt. Ich habe allgemein geflucht über meinen Job, die Kunden und die Sinnlosigkeit. Die Sinnlosigkeit, die ich in meiner Arbeit sehe. Ich bin nicht persönlich geworden. Obwohl meine Vorgesetzte das verdient hätte. Egal. Viele Dinge, die früher wichtig waren, sind es heute nicht mehr. Dazu gehört auch und vor allem dieses „Turbokapitalistische-HöherSchnellerWeiter-ScheißAufDieVernunft-Konsumgehabe“. Das nervt total. Leider ist dieses Denken weit verbreitet.

Die MS verändert meinen Blick auf die Welt und verschiebt meinen Fokus. Materielle Dinge sind fast unwichtig geworden. Ich kann mich gut in andere hineinfühlen, habe viel Verständnis, interessiere mich für die inneren Belange und lasse Oberflächlichkeiten und Egoismus links liegen. Ich weiß also sehr gut was ich nicht will. Vieles kam unbewusst über eine lange Zeit zutage.

Ich habe nach meinem Ausraster folgerichtig eine Abmahnung erhalten. Rückblickend hat sich mein Unmut über die berufliche Situation über eine lange Zeit hinweg aufgestaut, bis ich geplatzt bin. Glücklicherweise ist mein großer Chef auf meiner Seite und wir verhandeln über ein Ausscheiden meinerseits aus dem Unternehmen, welches für beide Seiten keine gravierenden Nachteile birgt. Ich will mit diesem ganzen Mist nichts mehr zu tun haben. Mir ist egal, ob ich finanziell optimal aus dieser Nummer rauskomme. Ich brauche Zeit für mich. Zeit, um herauszufinden, wer ich bin. Was ich will. Es gibt so viele Möglichkeiten. Ich muss mir alles selbst erarbeiten, es gibt Person A (Familie, Freunde, Bekannte, Ärzte, Behörden etc.), die alle vermeintlich zu wissen glauben, was zu tun ist. Und dann gibt es Person B mit einer gänzlich anderen Meinung. Daraus baue ich mir meine eigene Welt. Das dauert unglaublich lange.

Nun bin ich krankgeschrieben und bald arbeitslos, habe also Zeit. Ich tue Dinge, für die vorher keine Zeit oder Energie da war. Time is honey. Ich werfe mich selbst in Unbekanntes und sammle persönliche Erfahrungen, von denen ich nicht zu träumen wagte. Zusammenhalt in einer Gruppe z.B. bei einem Hindernislauf. Die ganze Gruppe ist zusammen durchs Ziel gelaufen, obwohl 2 Läufer geradezu geschleppt werden mussten, weil die Beine versagten. Ein unglaubliches, unbekanntes, großes Gefühl und eine wertvolle Erfahrung. Dieses war das Initialerlebnis, welches mich zu weiteren Grenzerfahrungen motivierte. Grenzerfahrung deshalb, weil ich wenig Erfahrung mit meinen eigenen vermeintlichen Grenzen habe. Vor allem im Bereich der Gefühle und Emotionen. Also mit meinem Selbst. 2 Tage später war ich Tauchen. Ich war selten so auf mich selbst (meine Atmung, meine Bewegung, Koordination) fokussiert. Das gleiche beim Seilklettern. Da war die Wand und ich, sonst nichts und niemand. Dieses „bei-mir-sein“ war eine ungewohnte Empfindung. Ich war mir vorübergehend meiner Selbst bewusst. Ein starkes, unglaublich positives, ja betörendes Gefühl. Eine Zeit lang keine Ablenkung zuzulassen war bis dahin unbekannt für mich. Bis dato war ich ein sehr technischer Mensch, habe immer irgendein Programm abgespult, Abläufe optimiert, priorisiert und einfach abgearbeitet bis alles erledigt war. Bis ich erledigt war. Und das habe ich nicht mal gemerkt. Meine Ehe ist gescheitert, 4 Jobs habe ich verschlissen aufgrund meines viel zu hohen Anspruchs an mich selbst. Nur an mich Selbst habe ich nie gedacht.

Was also ist jetzt der Plan? Es gibt keinen. Ich kann irgendeinen Job annehmen, aber es wird dann auch nur irgendein Job bleiben und nicht das, was ich will. Ich könnte bestimmt eine psychosomatische Reha machen. Ich weiß nicht. Noch nicht. Vielleicht sollte ich ein Buch schreiben? Gut, dass ich den Ausraster hatte. Seitdem hat ein neues Kapitel in meinem Leben begonnen. Ich weiß noch immer nicht, was ich will, aber ich will nicht mehr auf Droge oder Entzug sein, mich selbst zerstören. So klappt das ja nie mit 'ner Frau. Denn das ist mein Ziel. Zugewandt möchte ich einer Frau sein. Liebe und Geborgenheit erfahren. Also das, was eigentlich alle Menschen wollen. Glück. Das will ich.

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