22 – Immer noch da

Januar 2021

00:00

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Eine Reha ist eine höchst ambivalente Erfahrung. Gefühle gehen mal hoch und wieder tief, wie in einer Art Karussell. Gefühlskarussell, ja. Es gibt hier oft Zeiten, in denen ich nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Oder das Herz. Das kann sehr anstrengend sein. Auf der einen Seite sind natürlich Erwartungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche ganz groß und bestimmend. Die Menschen kommen hierher, damit ihr Leiden gelindert wird, weil sie sich schnell Heilung in irgendeiner Form versprechen, hoffen, dass alles wieder gut wird. Mir geht es da nicht anders. Einige meiner Mitstreiter berichteten von traurigen und einsamen Stunden allein und zurückgezogen auf ihrem Zimmer. Auch ich habe mich einige Male in den Schlaf geweint. Doch leider, auf der anderen Seite, können die Ärzte und Therapeuten nicht zaubern und entpuppen sich manchmal als die Überbringer schlechter Nachrichten. Oder zeigen mit profanen Dingen die neuen persönlichen Grenzen auf. Diese muss leider jeder Mensch für sich allein tragen. Klar, das Mitgefühl, dass hier einem sehr viel leichter und vermeintlich wohlwollender entgegenschlägt als in der restlichen Welt da draußen, hilft fürs Erste. Aber wenn man die Tür hinter sich zumacht und mit seinen Gedanken allein ist, wird einem das Herz schon schwer. Und trotzdem ist Aufgeben keine Option. Jedenfalls nicht für mich! Loslassen. Annehmen. Ohne Druck, ohne Hast, ohne den Drang nach Geschwindigkeit, aber auch nicht zu gemütlich oder gar gemächlich, die Dinge, die da kommen, verdauen. Denn die Dinge kommen, ob ich will oder nicht. Das richtige Maß zu finden, ist generell nicht leicht. Gerade mit meiner Fatigue befinde ich mich immer zwischen dem optimalen bzw. dem nicht so optimalen Gemüts- und Belastungszustand. Ich bilde mir ein, herausgefunden zu haben, wann ich geschwind sein kann und wann ich gemächlich sein muss. Wie geschwächlich ich mich also verhalte, beeinflusst ungemein mein Energielevel. Geschwächlich? Ja, wirklich! Mein Physio! Ein Philodoof vor dem Herrn. Ich bin sehr dankbar für all seine Inspirationen. 

Ich habe hier die eine oder andere Frau kennengelernt. Es ist ja überhaupt ein großer Schritt für mich, mich auf diese mysteriösen Wesen näher einzulassen. Eine Dame hat sogar länger nach mir gesucht und sprach mich an. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und uns über dieses und jenes unterhalten. Irgendwann landete das Gespräch wieder bei meinem Zensor, also meinem Vater und meiner Kindheit, blablabla. Sie ritt sehr lange darauf rum, ich möge ihn doch vergessen, schließlich könne ich ja nicht mein ganzes Leben mit ihm verbringen. Sonst würde ich nichts erleben und mir alles verbauen. Meine Erklärungsversuche verstand sie leider nicht und so fühlte ich mich sehr in die Ecke gedrängt. Sie zerrte an mir, hatte ich das Gefühl. Nach diesem verbalen Stelldichein brach ich den Kontakt ab. Sie war einfach nicht freundlich zu mir. Ja, irgendwie schon zugewandt, doch ich erhielt keinen Zuspruch. Das war belastend und natürlich auch traurig für mich, ich hab‘ mir viel Mühe gegeben. Aber ich konnte für mich entscheiden, dass eine gewisse Grenze erreicht war und dies auch artikulieren. Es ist so unglaublich viel wert „Nein!“ und „Stopp!“ sagen zu können. Sehr befreiend! Grenzen zu erkennen ist das eine, sie zu verteidigen etwas völlig anderes.

Apropos Grenzen: Nach dem Gespräch mit der Sozialberaterin über den offensichtlich unvermeidbaren baldigen Neustart durch Beantragung einer Rente und dem Vorschlag, einem sozialen Wohnprojekt beizutreten, war ich sehr down, traurig und entmutigt und zweifelte, ob das alles überhaupt irgendwie klappt. Die Erlangung einer Rente, eventuell notwendige rechtliche Schritte, der monetäre und soziale Fortbestand meiner Existenz; alles sehr diffus. Die Dame sagte, es gäbe keinen Grund sorgenvoll zu sein. „Sehen Sie jetzt erstmal zu, dass sie sich ein schönes Leben machen.“ Ich war erleichtert und habe mich vollumfänglich verstanden gefühlt, hatte aber gleichzeitig Angst und Tränen in den Augen. Sie gab mir viele Informationen, aber auch Hilfsangebote von bei mir vor Ort an die Hand (merkwürdige Formulierung). Benebelt, ungeordneter als vor dem Gespräch verließ ich, mit meinem neuen Forschungsauftrag, ihr Büro. Aber auch irgendwie klarer. Mit dem Wissen, dass die nächsten Kämpfe schwierig werden würden. Doch auch leichter. Denn ich würde nicht allein kämpfen müssen, wenn ich das nicht will und Hilfe zulasse. Ein riesiges Durcheinander in meinem Kopf. Jedenfalls war ich mental völlig kaputt und wollte dieser Unwissenheit, dieser Unsicherheit, Ungewissheit entfliehen. Also missbrauchte ich mein Cannabis Spray. Ich war den Abend über ziemlich lustig drauf, beschwingt, gesellig und hatte gute Laune. Am nächsten Morgen wachte ich, ich habe das erste Mal durchgeschlafen, mit leichten Kopfschmerzen auf. Nach der unvermeidbaren morgendlichen Routine im Bad lief ich wie zufällig am Ganzkörperspiegel im Flur vorbei. Ich blieb abrupt stehen und musterte mich von oben bis unten. Ich hatte nur eine Windel an. Hm. Bedrückt und freudlos schaute ich drein. Eigentlich sehe ich doch ganz ok aus. 

Das Handy im Bad dudelte unverhofft Dr. DRE - The next Episode. Unbewusst begann ich, mich langsam zur Musik zu bewegen, zu swingen. Ich sah mir fest in die Augen. Eine warme, tolle, ungewohnt neue Wahrnehmung von mir selbst. So klar. Befreit. Nach und nach gingen die Mundwinkel hoch, Blut rauschte in meinem Kopf, Herzklopfen, ich war plötzlich guter Dinge.

Hold up, hey

For my niggas who be thinkin' we soft, 

we don't play

We gonna rock it 'til the wheels fall off

Hold up, hey

For my niggas who be actin' too bold, take a seat

Hope you ready for the next episode

Hey, hey, hey, hey

Smoke weed everyday.

Augenblicklich entspannte ich mich, grinste mich im Spiegel an und begann den neuen Tag freudig und gelöst. Ich musste an einen Freund aus Kindertagen denken. Mit Basti hing ich auch während meiner Ausbildungszeit ab, wenn ich mal in Magdeburg war. Wir chillten dann oft bei ihm auf dem Sofa und hörten The Chronic 2001 rauf und runter. Dieses Outro ist mir mein Leben lang immer im Kopf geblieben. Genau wie Basti. Ich war sehr traurig als er starb.

Ich beobachte tausende leis‘ schwebende, klitzekleine Eiskristalle im Sonnenschein umherflirren. Ganz sachte, ganz leicht, als würden sie niemals den Boden berühren wollen. Ein vermeintlich beständiges, glitzerndes Auf und Ab. Sanfter Wind weht sie hin und her. Sie lassen sich in ihrem Sonnentanz nicht stören. Eine Bewegung, die ziellos und kein Ende zu haben scheint. Für mich ist dies nicht das Ende. Ich bin immer noch da. Meine ureigene Bewegung ist nicht geradlinig. Ich werde ebenso von äußeren Dingen beeinflusst. Vor allem aber von meinem Inneren. Ich muss nicht an früheren Zielen und Ansichten festhalten, bedingungslos hinnehmen und sträflich verfolgen. Ich darf tanzen. Ich darf entdecken, was noch so da draußen ist und was das Leben, was mein Leben, noch alles zu bieten hat. Es beginnt eine andere, spannende, aufregende, prägende und einfach neue Episode meines Lebens. Unter zwangloserem Bestreben, alternativen Prioritäten. Neugierig und offen erwarte ich die Feinjustierung meines reifenden Ichs, in unserer langsamen und analogen Welt. 

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