Seit elf Tagen darf ich nun hier in der Reha Klinik Bad Wildungen sein. Es ist ein so beruhigend gutes Gefühl, sich selbst zu entdecken und darin auch noch bestärkt zu werden. Zeit zu haben und nichts übertreiben zu müssen. Sich darauf einlassen, loslassen zu können. Die Ärzte und Schwestern haben immer ein offenes Ohr, die Therapeuten sowieso. Es ist so schön, Dinge in Ruhe ausprobieren zu können und dabei nicht gehetzt zu werden. Jedoch ist Geduld mit sich selbst zu haben ein langer Lernprozess, der sich irgendwie komisch anfühlt, sich am Ende aber mehr als auszahlt.
Zwischenzeitlich hat sich ein ganz neues, anderes, bewussteres Lebensgefühl eingestellt. Wir Versehrten sind wie eine große Familie, die feinfühlig besondere Rücksicht auf ihre Angehörigen nimmt. Ob es darum geht, sich gegenseitig die Tür aufzuhalten oder die Reihenfolge der Hungrigen am Buffet abzumachen, jede vergleichbare Kleinigkeit erscheint irgendwie freier und gelöster als gewohnt. Ähnlich ist es in den Einzel- oder Gruppentherapien, alles ist zugewandt und individuell auf jeden Menschen abgestimmt. Für mich gibt es wenig Grund, Sorgenfalten auf der Stirn zu tragen.
Ich habe immer noch große und unangenehme Probleme mit der Blase, da das neue Medikament vornehmlich seine Nebenwirkungen zeigt. Doch ich habe Zeit, auch andere Medikamente und Therapien auszuprobieren. Das Gleiche mit den Blutdruckpillen. Okay, hier erfahre ich glücklicherweise schnelle Linderung meiner seit Langem bestehenden inneren Unruhe.
Ja, es ist nervig Protokolle zu führen und seinen Körper zu überwachen, jedoch macht das ja auch was mit Einem. Sich selbst bewusst werden nämlich. Gerade wenn der vermeintlich total verpeilte Physio sagt: „Mach mal die Bewegung mit dem Sprunggelenk; und dann denke dir die gleiche Bewegung mit der Hüfte. Nur denken!“ Wie unerwartet belebend aber auch anstrengend das ist, merke ich augenblicklich und später im Austausch mit den übrigen Teilnehmern.
Das Gespräch mit den anderen über die jeweiligen Befindlichkeiten und die Wirkungen der Therapien ist fast genauso heilsam, wie die Therapie an sich. Ich fühle mich nicht so allein. Manche haben ähnliche Probleme wie ich. In der Ergo z.B. sollen wir winzige Gegenstände mit den Fingern greifen und in der Hand bewegen. Mit „winzige Gegenstände“ meine ich z.B. Murmeln oder Münzen. Für viele Dinge reicht die Sensibilität in meinen Fingerspitzen nicht aus, um diese, für mich nun klitzekleinen Gegenstände, zu fassen. Ich schummle dann angestrengt mit meinen Fingernägeln, die ich gestern abgeschnitten hab. Darüber fluche ich leise, werde aber sofort beruhigt. Mein Kompagnon raunt mir vom anderen Ende des Tisches zu: „Wenn du lange genug hier bist, hast du wieder Fingernägel.“ Das beruhigt mich.
Ich habe nicht nur keine Fingernägel, sondern auch keine Kraft in den Händen. Dafür gibt es sogenannte Therapieknete, mit denen man Kraft und Koordination in den Fingern, Händen und Armen trainieren kann. Hier gibt es keine Knete, hier gibt es Teig. Als ich das erste Mal mit dem Teig in Berührung kam, kam ich mir vor wie im Kindergarten. Aber schon eine Viertelstunde später merkte ich, wie anstrengend es sein kann, seine Finger zu bewegen. Vor allem bewusst zu bewegen. Das sind keine einfachen Aufgaben, die man nebenbei vor dem Fernseher erledigen kann.
Die erlernten Übungen darf ich in meinem Zimmer alleine pauken und trainieren. Auch das ist ein komisches Gefühl, so ganz allein am Tisch zu sitzen und konzentriert mit Brotteig-ähnlichem Zeug rumzuspielen. Ich lasse mich darauf ein und merke den Muskelkater in Armen, Schultern und natürlich den Fingern am gleichen Abend. Messer und Gabel wie gewohnt zu benutzen ist vorübergehend fast unmöglich und bemerkenswert schwer.
Der Teig, mit dem ich übe, sollte eigentlich kühl gehalten und nicht unbedingt in der Nähe der Heizung aufbewahrt werden. Doch ich habe weder Kühlschrank noch Balkon in und an meinem Zimmer. Überhaupt ist dieses spartanisch, aber vollkommen ausreichend ausgestattet. Ich bin ja nicht hier, um in Saus und Braus zu wohnen. Nun hängt also mein Therapieteig mithilfe einer schwarzen Tasche in einer Führungsschiene der Außenjalousie an der weißen Fassade des Gebäudes, für alle sichtbar. Ein ungewöhnlicher Anblick, aber missliche Lagen machen erfinderisch! Und laden vielleicht auch zum Spielen ein.
Mein Physio sagt: „Kein Geiz ist geil und Wettkampf macht auf Dauer krank.“ Wettkampf, genau das ist es, was da draußen gefördert wird, um irgendwelchen Ansprüchen und Erwartungen gerecht zu werden. Ich kann nicht mehr kämpfen, ich will nicht mehr kämpfen. Es ist sehr viel leichter, angenehmer und vor allem gesünder, Einschränkungen anzunehmen und spielend zu lernen, mit ihnen umzugehen. Ich habe das früher schon leise geahnt, aber ich war mir dessen nie wirklich bewusst. Ich habe gegen meine Krankheit gekämpft und verzweifelt versucht, sie zu besiegen. Bullshit! Gegen die Krankheit, gegen die Schmerzen, körperlich wie psychisch, kannst du nichts tun, sie sind da und werden vermutlich nie wieder weggehen. Vielleicht werden sie sogar schlimmer, vielleicht schränken sie dich im Laufe der Zeit immer mehr ein.
Doch du kannst versuchen, sie anzunehmen. Du kannst versuchen, mit ihnen und nicht gegen sie zu leben. Möglicherweise kannst du irgendwann liebevoll mit ihnen, mit dir, umgehen. Vielleicht kannst du sogar etwas Positives in ihnen entdecken. Den Widerstand, den du selbstverständlich gegen sie in dir trägst, verringern. Dadurch wird dein persönliches Leid hoffentlich kleiner und es fällt dir dann leichter, Rückschläge besser zu ertragen, ohne sie wirklich tragen zu müssen. Energie raubenden, unnötigen Ballast über Bord werfen, leichter sein. Dir weniger Gepäck aufladen, um dadurch flexibel zu bleiben und trotz allem Lebensfreude empfinden. Ich hoffe sehr, du verstehst diese Bilder. Stärke die Kraft deines Geistes, damit sie dich in plötzlich hereinbrechendem Unglück schütze. Diese Erkenntnis möchte ich dir mit auf deinen beschwerlichen Weg geben, mir hat diese Erfahrung sehr geholfen, meinen Willen gestärkt und meinen Lebensmut wieder angefacht.
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