18 – Wer ist dieser "man"?

Januar 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Ich habe ihn noch nie gesehen! Wo ist er hin? Ich würde ihm gerne mal ein paar Fragen stellen! Vor allem, was er denn den Menschen antut.

Dieser “man” erscheint mir im Sprachgebrauch wie eine Maske, wie ein Ersatz für sich selbst, wie ein Schutz vor sich selbst. Wir haben verlernt von uns zu sprechen. Wir haben verlernt uns auszuhalten, uns zu verstehen. Wir beziehen viele Dinge, die in unserem Inneren stattfinden auf unsere äußere, eingeschränkt wahrgenommene Welt. Wir verallgemeinern, pauschalisieren und tun ab, wir etikettieren und stecken in Schubladen, damit wir uns selbst nicht weh tun. Dieser “man” ist eine fiktive, unwirkliche und unverletzbare Person. Wann immer wir emotionale Schwierigkeiten haben uns zu positionieren, rufen wir diesen “man” herbei und reden damit um den heißen Brei herum. Nämlich um uns selbst. Wenn meine Katze überfahren wird, dann sage ich nicht: “Ja, da ist man schon traurig…” Nein. “Ich bin traurig.” sage ich und lasse damit tiefe und vielleicht unangenehme Emotionen zu. Und ich gebe sie mitunter auch vor anderen Menschen zu. Selbstredend kann das schmerzhaft sein. Aber es ist authentisch und mutig. Dieses man-Ding ist ein von der Gesellschaft verordnetes Therapeutikum zur Anpassung an die Gesellschaft. Ein Schritt in Richtung Gleichförmigkeit. Wie angepasst. Wie langweilig. Kaum zu glauben wie schwierig es ist eine solche Verhaltensweise abzustellen bzw. bewusst anders zu agieren. Ich habe nunmehr fast zwei Jahre gebraucht um mir meiner Selbst bewusster zu werden und diesen “man” aus meinem Sprachgebrauch weitgehend zu vertreiben. 

Ab und zu rutscht mir trotzdem ein “man” über die Lippen aber ich beeile mich, mich selbst entsprechend zu korrigieren. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Mitmenschen für diese, meine Gedanken und Schlussfolgerungen nicht besonders empfänglich sind. Ist es so anstrengend über sich selbst nachzudenken bzw. sich selbst zu fühlen? Oder ist es die permanente Ablenkung in der Alltagsrealität? Stressiger Job, Familie, Freunde, Konsum etc. Oder ist es die Annahme sich nicht um sich selbst kümmern zu müssen? Nach dem Motto: So haben wir das immer schon gemacht. So wird es erwartet. So muss es sein. Und eigentlich ist es ja gar nicht so schlimm. Da muss man halt durch. Eine Art Resignation ist dies für mich. Ein sich verbiegen, sich den Gegebenheiten beugen und unterordnen. Mit Selbstbestimmung hat das wenig für mich zu tun.


Ich sehe es an meinen Eltern. Beide so um die 60 Jahre alt. 3 Kinder, 5 Enkel. Beide voll berufstätig und beide können schwerlich “Nein” sagen. Schon gar nicht zu Ihrer Familie. Verständlich weil menschlich. Beide klagen darüber zu stark belastet zu sein, haben entweder Angst um ihren Job oder Frust auf der Arbeit, laden sich liebenswürdigerweise und zur Abwechslung zwei bis vier Enkel übers Wochenende auf, um Sonntag Abend total erschöpft auf der Couch dem Montag entgegenzudösen. Damit alles wieder von vorne losgeht. Sie sind beide schon viel zu lange in dieser Mühle gefangen, scheinbar unfähig sich daraus selbst zu befreien. “Jammern auf hohem Niveau” sagt meine Mutter wiederholt. Ja sicherlich, es gibt Menschen mit substanzielleren Problemen. Aber auch das ist ein Nichterkennen von sich Selbst. Ein sich-verleugnen sogar. Die vormals seltenen Gespräche über das wirkliche Befinden und die Klagen darüber häufen sich in letzter Zeit. Klar, das eigene Leid ist immer das Schlimmste! Ich habe eine solche Misere selber erlebt. Ich weiß, wie schwer es ist, sich selbst zu finden. Ich weiß auch, wie schwer es ist, sich erstmal zu überwinden um überhaupt auf die Suche zu gehen. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es sich lohnt. Dass es sich lohnt über sich nachzudenken, sich einen Überblick über die schier endlosen Möglichkeiten zu verschaffen und sich selbst vielleicht neu zu erfinden. Es gibt mit Sicherheit darüber dankbare, frohe Menschen, Kinder, Enkel. Ein Leben im verkopften Alltagstrott, getrieben von ungesunden Ansprüchen, mit dem immerwährenden Gefühl gehetzt zu werden und die einfachsten Dinge nicht mehr genießen zu können, ist das lebenswert?

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