11 – Ein Kampf gegen Windmühlen

Oktober 2020

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

(weiter von Beitrag 10 - Totale Langeweile) ... ein Kampf gegen Windmühlen, was ich natürlich nicht jedem gegenüber zugeben möchte. Leider ist es fast nicht mehr zu übersehen. Ich habe mich ein paar mal getraut, mit dem Rollator spazieren zu gehen. Die Leute, die ich unterwegs traf, schauten zu Boden und nicht in meine Augen. Ich traf ein paar Nachbarn, die auch ziemlich schockiert, kleinlaut und unsicher wirkten. Ein Nachbar bringt mir nun öfter mal was zu essen und zu trinken vorbei. Das ist ja schon fast süß.

Nur mit halber Kraft interessiere ich mich für Philosophie und auch Psychologie. Ich bedauere nicht, viel früher in diese Richtung gegangen zu sein. Es ist nun fast November 2020 und wir erleben einen weiteren sogenannten Lockdown in Deutschland wegen der Coronapandemie. Ich bin einfach leer und weiß nicht, wohin mit mir.

Ich habe den 14-jährigen Alex in mir getroffen. Er nimmt nun eine beobachtende Position in meinem Leben ein. Er kann mir nicht helfen, schließlich ist er erst 14 Jahre alt. Meinen Weg muss ich alleine gehen und dabei versuchen, ihn nicht zu enttäuschen. Der Blick, mit dem er mich ansieht, ist eine Mischung aus Stolz und Anerkennung, aber auch Sorge und Bangigkeit. Er lässt mich sehr viel bewusster am Leben teilnehmen.

Unser Zusammentreffen ist erst zwei Wochen her, beim Basteln am Computer wie ich es als Kind bzw. Jugendlicher getan habe. Ich musste nämlich meine Büroecke umbauen, sodass es sich nun bequem arbeiten lässt. Sieht zwar nicht mehr so schön aus wie vorher, aber es ist zweckmäßig. Ich schätze auf die Zweckmäßigkeit läuft es zukünftig hinaus.

Ein paar Dinge in meiner Wohnung habe ich bereits barrierefrei gestaltet. Oder barrierefreier. Ich stehe Änderungen, die mir selbst zugute kommen aufgrund meiner körperlichen Schwächen nicht mehr zurückhaltend gegenüber. Im Gegenteil: Ich bin sehr eifrig, mir das Leben bequem zu machen.

Ich habe Dirk kennengelernt. Dirk ist schwul und sitzt im Rollstuhl. Er ist ausgesprochen nett, offen und sein Freund heißt auch Alex. Wir haben uns bei einer Tagung kennengelernt und sofort super verstanden. Am Samstag gehen wir zu dritt zum Spanier essen. Danach werden wir wohl lange Zeit keine gemeinsamen Treffen im Restaurant oder sonst wo wahrnehmen können. Corona Lockdown!

Wir schreiben jeden Tag miteinander, eigentlich belangloses Zeug, aber uneigentlich ist dieser kontinuierliche Kontakt fabelhaft. Jemand ist in mein Leben getreten und ich habe nicht damit gerechnet. Das ist einfach nur schön. Er hat mir Mut gemacht, ohne es vielleicht zu ahnen.

Ich habe sehr große Angst vor dem Rollstuhl. Dirk ist eine Frohnatur und bestreitet sein Leben auf bewundernswerte Art und Weise, soweit ich das beurteilen kann. Denn so richtig viel wissen wir voneinander noch nicht. Das wird sich ändern, jedenfalls hoffe ich, dass wir trotz des erzwungenen Abstands die Gelegenheit haben und nutzen, uns über unser gemeinsames Los auszutauschen. Ich denke, das wird für uns beide bereichernd sein. Diese glückliche Begegnung gehört wohl auch zu dem, was man Leben nennt. Überhaupt nehme ich das Leben an sich sehr viel deutlicher wahr als noch vor einiger Zeit.

Blogpost teilen
hoch