39 – Lass mich Ruhe

November 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Hello darkness my old friend. Ich befinde mich seit ein paar Tagen in einem ziemlich tiefen Tief. Wieso, woher und weshalb spielt gar keine Rolle, es ist da und so darf ich mich nun eingehend mit ihm beschäftigen. Die Frage "warum ich" und "warum überhaupt" rotiert mit schwindelerregender Geschwindigkeit um mein wiedererstarktes Selbstmitleid. Ganz behutsam jetzt.

Vor nicht allzu langer Zeit, zu Beginn meiner Selbstreflektionen, habe ich ein Buch gelesen in dem es um das Leben der Juden im KZ ging. Es wurde der schreckliche Alltag beschrieben, das Kämpfen, das Sterben. Hier fiel mir ein markanter Satz auf, den ich seitdem immer mal wieder im Kopf habe: Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie. In unregelmäßigen Abständen erinnere ich diesen Satz und frage mich: Was ist denn eigentlich dein Warum und
gleichzeitig der Grund für die ganzen körperlichen Mühen und geistigen bzw. psychischen Querelen, die du in den letzten Jahren auf dich genommen hast? Ich habe lange und anfangs angestrengt nachgedacht, im Laufe der Zeit hat die Anstrengung glücklicherweise aber nachgelassen. Zu viel anderes Zeug spukte in meinem Kopf und ließ diese, sich nun mal wieder in den Vordergrund drängelnde Frage fast bedeutungslos werden. Umso mächtiger kehrt sie zurück. Weil ich keine Antwort auf diese wichtige Frage habe. Oder besser: keine Antwort, die mich zufrieden stellt. Ich ertappe mich dabei wie ich grantig eine Floskel, die gut auf einem Autoaufkleber stehen könnte, in mich hinein meckere. "Ich hab keinen Grund, ich hab ne Deadline. So, kannste ma gucken, ey!" Auweia! Tatsächlich habe ich eine rote Linie, einen Tag an dem ich die Reißleine ziehen möchte, wenn das alles so weitergeht oder noch viel beschissener wird und ich mit der Scheiße nach wie vor alleine da stehe. Jedenfalls habe ich meine brüchigen Pläne vor 3, 4 Jahren meiner damaligen Arbeitskollegin erzählt, als ich beim Mittagessen mit meiner MS Diagnose rausrückte. Das ist alles so plastisch gerade. Ich erlebe diese Situation so, als wäre es erst gestern gewesen. Damals wusste ich noch überhaupt nichts, war in keinster Weise reflektiert, hatte große Klappe und natürlich die Hosen voll. Ich stand damals ganz am Anfang meiner Erfahrungen. Die MS an sich empfinde ich selbst mittlerweile als gar nicht so schlimm auszuhalten. Ja klar, immer mal wieder
verabschiedet sich etwas von mir oder ich mich von etwas. Aber, und das ist meine persönliche Erfahrung, meine körperlichen Einschränkungen sind handhabbar. Ich habe mich verstärkt mit dem sogenannten Lassen-tun auseinandergesetzt um nicht krampfhaft an Dingen festhalten zu müssen, die gar nicht mehr angesagt sind. Ich musste beispielsweise immer nach dem Duschen den gesamten Badewannenrand abwischen und trocknen. Das wurde, vor allem körperlich, im Laufe der Zeit immer anstrengender und zweimal durfte ich sogar mittels hektischem Drucktest die Härte der Fußbodenfliesen testen. Mit dem Gesicht. Seitdem wische ich diesen blöden Badewannenrand nicht mehr ab. Überhaupt habe ich meinen Putzfimmel, an den ich bereits Monde meiner Lebenszeit vergeudet hatte, so sehr eingeschränkt, dass ich nun kaum mehr putze. Es muss nicht immer alles super toll aussehen und alles erledigt sein und für andere genehm. Ich habe mich in dieser Sache um annähernd 180 Grad gedreht. Ich habe eigene Trends gesetzt und lebe immer noch. Für mich muss es genehm sein. Zuallererst kommt das was ich will. Und was will ich? Nicht alleine sein. Dafür brauche ich Energie und Freiraum. Was will ich wirklich? Eine Freundin! Für eine Solche brauche ich ja erst recht Energie und Platz und Zeit und einen gesunden Umgang mit mir selber. Hm. Ich bin für beides nicht bereit. Der Ausspruch "Lass mich Ruhe!" entspringt, 'Wer hat's gewusst?', meiner Kindheit. Es gab eine lange Zeit in der jemand ständig an mir popelte, an mir zog, nach mir rief, mich zurecht stutzte, sagte was ich zu tun und zu lassen habe, mich permanent unterbrach und sich überall einmischte. Das kriegte ich überwiegend unbewusst mit, ich war ein Kind. Zusätzlich kann ich mich nicht erinnern, jemals nachhaltig getröstet worden zu sein, auch später nicht als heranwachsender Jugendlicher. Beschwichtigt und verharmlost, ja. Es scheint als wäre eine durchsichtige aber nicht durchlässige Mauer um mich herum errichtet worden. Von dem Bild wie ich mich selbst, weinend und verzweifelt, an diese Mauer klopfen, schlagen und treten sehe, kann ich dir nicht mehr erzählen, ich sehe nämlich nichts. Diese Mauer kann nur ich selbst einreißen. Was ich wirklich, wirklich will ist nicht das nächste High, der nächste Rausch, der nächste Orgasmus oder etwa eine Frau. Sondern Trost.

Meine Deadline ist mein 40. Geburtstag. Das wird ein interessantes Gespräch mit meiner Psychotherapeutin nächste Woche.

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