Seit sechs scheinbar endlosen Tagen habe ich kein Internet und kein Fernsehen. Vorausgegangen diesen Glückes plötzlich totaler Digitalabstinenz und Schweigens des schwarzen Vierecks war ein Stromausfall an einem Freitag zur Primetime. Ich kann mich nicht erinnern wann ich den Letzten, vor allem so bewusst, miterlebt habe. Ich war gerade am Lesen, irgendwas von Goethe, als alle Lichter ausgingen. Sein Text ist denkbar anspruchsvoll, somit verdrehte ich die Augen weil ich in meiner tiefen Konzentration unterbrochen wurde. Ich saß eine Weile im Dunkeln, genoss die absolute Stille und sog das sich langsam
erklärende Zwielicht mit jeder Pore meines Körpers lustvoll ein. Ich überlegte, was jetzt?, Taschenlampe?, Feuerzeug?, Kerzen?, hast du nicht noch Sanddornlikör? Genau diese Reihenfolge arbeitete ich ab und fand mich zehn Minuten später wieder auf meinem Sofa, beleuchtet von einer roten und einer orangenen Kerze. Beide habe ich vor dem Verstaubungstot gerettet. Sie knistern ganz aufgeregt als ich ihr Feuer entzünde. Der Kühlschrank geht nicht mehr, das Eisfach taut ab, die Heizung liefert keine Wärme und auch mein Fußkissen bleibt kalt. Sowas Blödes, ich habe keinen Ingwer im Haus, diese doofen
Idioten von der Stadt! Die müssen ja unbedingt ein Breitbandkabel verlegen, und jetzt? Jetzt geht gar nichts mehr! Diese Schweine! Ich will Fernseh gucken! Morgen renne ich gleich zum Vodafone-Shop und scheiße den kleinen Verkäufer mit Migrationshintergrund zusammen wieso er so unerwartet jedoch persönlich das Kabel durchgehackt hat! Und die GEZ verklag ich auch, ich habe schließlich bezahlt! Schweinerei! Jetzt kann ich noch viel weniger die Sender nicht gucken, die ich sonst auch bloß boykottiere. Was die damit zu tun haben? Ist mir doch egal! Mein Nachbar steht auf der Straße und trinkt ein Bier. Nur ganz schemenhaft kann ich ihn erkennen, er steckt irgendwo beim Zocken in Assassins Creed fest, wettert er. Er brauche Internet für diese Tagesaufgabe! Scheiße!
Die ganze Straße ist dunkel. Alles hat sich mit einem mal heruntergefahren. Reset. Der Strom an sich war nach einer halben Stunde wieder da, ich lag da längst im Bett weil ich mich erinnerte wie es ist mit zu viel Alkohol intus zu Bett zu gehen. Auf den gesetzten morgigen Kater hatte ich keine Lust. Der nächste Tag begann etwas dumpf, das lag vielleicht auch an dem Presslufthammer direkt vor meinem Fenster. Die Bauarbeiter mussten ja nun finden was sie beschädigt hatten. Sie suchten sehr gründlich und unermüdlich, sogar am Sonntag. Ich konnte mich eine zeitlang ziemlich gut selbst beschäftigen, habe Utensilien zum Umtopfen für meine zwei Palmen besorgt, Freunde besucht, viel gelesen und mir über dies und das Gedanken gemacht. Sogar gekocht habe ich mal, Fenster geputzt und staubgesaugt. Meine Nachbarn, die sich ausdauernd und ausgiebig über diesen Kabelbruch echauffierten, habe ich versucht zu ignorieren und aus dem Weg zu gehen. Das war mir irgendwie alles zu dusselig, wie kann man denn so abhängig von der Glotze und dem Internet sein, verstehe ich nicht! Wird doch wohl ein paar Tage auch ohne gehen. Ja, und dann erwische ich mich plötzlich nichts denkend in der Küche den Kühlschrank anstarren. Ja genau, Einkaufen... war ich gerade. Mir fällt Torsten Sträter ein: "Wie oft kann man seine Fußnägel schneiden?" Ich stelle fest, wie langweilig mir ist, ich stelle fest, dass ich dort wo ich gerade mit meinen Gedanken bin, schon öfter mal spazieren war. Ich stelle fest, dass ich diesen ganzen Ablenkungsquatsch, diese Berieselungsapparatur, diese lärmende, gleißende, fast immer irgendwie aggressive Beschallung und Beleuchtung seit längerer Zeit schon nur noch am Rande wahrgenommen und selten wirklich reingelassen habe. Somit eigentlich gar nicht brauche. Komisch wie das mit der Wahrnehmung und den Gewohnheiten ist. Die Gewohnheit bestimmt. Ich mache die Glotze an und lass mich berieseln, das habe ich mir verdient, es war ja schließlich ein anstrengender Tag. Ich habe mich von der Flimmerkiste eine zeitlang hypnotisieren lassen, wie ein kleines Kind, das eigentlich gar nicht so viel fernsehen soll, sondern die echte Welt entdecken darf. Das dann überhaupt gar nicht ansprechbar ist. So ähnlich war auch ich selbst eine ganz lange Zeit, total paralysiert. Gelähmt. In Zusammenarbeit mit dem Internet und den unendlich vielen digitalen Angeboten zum Streamen von Serien, Filmen und Sport ist diese Zeitfalle aufgrund immer
neuer bunter Bildchen höchst perfider Natur. Mit 'sich bewusst sein' hat das recht wenig zu tun. Mir ist aufgrund dieses ganzheitlichen Ausfalls bequemster audiovisueller Ablenkung bewusst geworden, warum ich so lange und so viel gekifft habe. Mir ist total bewusst geworden, dass mir nicht viele Dinge und erst recht nur wenige Menschen, geben können was ich brauche. Das alleine in der Küche sitzen und den Kühlschrank anstarren hat sehr tiefe Vorgänge in mir angeregt. Ich habe ausreichend geweint in diesen sechs Tagen. Trotz Allem bin ich froh dass die Glotze nun wieder Futter bekommt, welches sie in die Welt hinaus tragen und ich mich davon bewusst nähren oder berieseln oder unterhalten oder bilden oder, oder, oder kann. Gut gelaunt und jauchzend springe ich im Hopserlauf abwechselnd von einem Bein aufs andere durch meine Woh…nein, sowas tu ich nicht. Aber krass! Man merkt immer erst was man an etwas oder jemanden hat, wenn es oder dieser jemand nicht da ist. Morgen ruf ich sie an.