37 - Rollstuhl

Oktober 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Ich komme mit Rocky angerollt um dich zu holen. Ich übe mal wieder gezwungenermaßen mit ihm, ab dem Lendenbereich ist es gerade schlecht. Ich integriere ihn in schwachen Momenten in meinen Alltag, in der Wohnung mache ich schon mal Vieles barrierefrei und durchdenke vielleicht schwierig werden könnende Eventualitäten. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Ansonsten versuche ich weitestgehend ohne Gehhilfe oder gar Rollstuhl auszukommen. Manfred, den II habe ich vor Zeiten in die Abstellkammer verbannt, Rocky steht am Küchentisch und guckt verliebt in der Gegend herum. Ich wollte von ihm wissen, wo Manne denn abgeblieben ist, doch sein verlegenes Genuschel habe ich nicht verstanden, also darf er mir mal helfen.

Eben war ich in der Küche unterwegs und habe mein 3D Puzzle vom Empire State Building gefragt: "Bist du eher nur staubige Küchendeko oder potentielle Nerverei?" Die leise Antwort tendierte eindeutig zur Nerverei. Einmal dem Tremor freie Hand gelassen; zack fertig! Einen zerstörten Wolkenkratzer in 500 Teilen in der Hand! Oder dort wo ein Rollstuhlfahrer nicht unbedingt gut dran kommt. Der Auffangkorb meiner roboterhaften Else Kling ist auch nicht groß genug, also verorte ich den Turm nach Anderswo, dort kann er ungestört weiter einstauben. Fast alle Stehrümchen, Schnickschnack und Deko, Zeug, Schmonz und Gedöns habe ich seit längerer Zeit sowieso schon aus meiner Umgebung entfernt. Ich habe mich, möglicher Barrieren bewusst, bereits auf Rocky und meine schwächelnden Arme eingestellt. Ich brauche Platz! Und ich brauche Ordnung, ich brauche Strom, ich brauche ein Tablett, ich brauche einen Korb. Ich muss am Besten an Alles aus dem Rollstuhl heraus rankommen, am liebsten möchte ich meinen ganzen Hausrat auf einmal mit Rocky transportieren können. In einem Hänger hinter mir herziehen, so wie Bob der Baumeister, wenn er denn sowas macht. Tut tut. Ja, es ist wieder an der Zeit so eine Balance zu finden. Diesmal zwischen praktischen, nützlichen Dingen und schönen, liebgewonnenen Dingen, die ich wirklich, wirklich brauche. Das mit den praktischen Dingen muss ich ja nicht erklären, die sind halt praktisch, helfen im Alltag und erhalten vielleicht einige Gewohnheiten. Und die schönen Dinge? Die halten einen am Leben. Das ist eigentlich schon alles. Aber es ist eben auch Alles! An jedem kleinen Schnullifax hängen außer Staub auch noch Erinnerungen. Sogar mir fällt es schwer mich von einigen Dingen zu trennen und dabei mental stabil zu bleiben. Das mit dem ganzen Lego fiel mir wirklich nicht leicht, mein Fahrrad, die Gartenbank. Mein blöder nachtschwarzer Roller mit dem vielen Chrom, den ich so akribisch geputzt hab. Der im Winter nie ansprang und wenn doch, immer wieder im unpassendsten Moment, absoff. In dessen riesigen verchromten Scheinwerfer sich der weite Himmel spiegelte und jede Allee wie ein Traum von Palm Beach wirkte.

Dafür sind jetzt die drei Manfreds da und Rocky. Ich habe ja schon geschrieben oder auch nicht, dass mir Rockys Name intuitiv in den Sinn kam als ich ihn an den Küchentisch schob. Irgendwas mit Oasis und Rocking Chair hatte ich im Ohr. Jetzt habe ich dieses Lied genauer untersucht und festgestellt, dass dieser Song ziemlich traurig ist, inhaltlich jedoch genauestens zu mir passt. Jedenfalls kann ich den Rollstuhl jetzt auch als Schaukelstuhl wahrnehmen. Ich rolle also nicht zum nächsten Exzess, sondern ich schaukle ganz geschwächlich… Ja, da ist sie wieder, diese Mischung aus geschwind und gemächlich. Langes ä. Hat nichts mit Schwäche zu tun.

Meinem Vermieter liegt eine E-Mail von mir vor, im Treppenhaus doch bitte zwei zusätzliche Geländer anzubauen. Einem Nachbarn, er ist Handwerker, habe ich die Glück und Frohsinn verheißende Aufgabe vermittelt, in meiner Küche ein Oberlicht zu installieren. Er freute sich sogleich ob der Qualität unserer bescheidenen Deckenstrukturen, und sagte sofort zu.

Habe den Beutel in meinem Mülleimer gewechselt. Merke: nicht vorbeugen und den Fußrasten das gesamte Eigengewicht aufladen. Fliegst auf die Fresse!
Ich hab bestimmt 10 Minuten gebraucht, um einen einfachen Knoten in den Beutel bzw. das blöde Band, welches als Verschluss desselben dienlich sein soll und doch nur mit seiner mangelhaften Antistatik nervt, zu machen. Mein linker Arm lässt echt zu wünschen übrig, manche Dinge tu ich tatsächlich bevorzugt mit links. Ich trainiere, diese Dinge auch mit der anderen Hand bzw. Arm tun zu können. Schreiben, Zähneputzen, Nägel schneiden, Pfanne halten oder Messer und Gabel, Anziehen, Kaffee kochen. Arsch abwischen? Scheißegal, ein Blick auf mein Smartphone und sofort spüre ich, dass Rocky da ist und viele andere ebenso. Vor allem sehe ich die Pommesgabel von Lutz direkt vor meinem inneren Auge...


Ich habe das hier alles gerade im Rocky sitzend geschrieben. Es ist ganz dunkel geworden. Klick!

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