Kennst du dieses unsäglich schöne und sehnsuchtsvoll schmachtende, nach Liebe lechzende Schmalzlied “Hero” von Enrique Iglesias? Vollkommen unbedeutend, in welcher Situation mir dieser Song begegnet, drückt er einen sehr wunden Punkt in meinem Herz. Völlig wurscht, ob ich bei Edeka am Kühlregal steh oder im Klamottenladen in der Anprobe mit den Kleidern kämpfe, mir bleibt unmittelbar die Luft weg. Mein Herz versucht einen neuen BPM Rekord aufzustellen und meine mittlerweile oft vorhandene gute Laune verabschiedet sich nicht einmal. Sie ist unverzüglich schlicht nicht mehr vorhanden. Dieses olle Lied geht mir dann den ganzen Tag nicht aus dem Kopf und ich kann mich wunderbar daran reiben. Dieses Lied, diese Melodie, dieser Wunsch, dieses Bedürfnis, diese Begierde, dieser Hunger, dieser Durst; ein Held zu sein.
Ein Kinotheodolit ist ein fast mannshohes, rätselhaft anmutendes Gerät zur Messung und Beobachtung von sich rasch bewegenden Flugobjekten. Es hat ein Okular, welches die freie Sicht durch diverse Spiegel und Vergrößerungsgläser auf sich abseitig bewegende und weit entfernte Objekte, z.b. Raketen, ermöglicht. Diese Objekte wurden sehr klar und vergrößert sicht- und begreifbar. Ich war mit Leuten im Museum des alten Kraftwerks in Peenemünde, wo die Nazis die V2 entwickelten. Eine fast niedliche, damals schrecklich tödliche Rakete, deren Erforschung und Erschaffung die Grundlage für jeglichen Weltraumverkehr der heutigen Zeit legt. Ich war natürlich neugierig und schaute gespannt in dieses Gerät hinein, mein Blick wurde um 90 Grad abgefälscht und lenkte meine Sicht auf eine Wand mit leeren Leitz-Ordnern. Diese waren nur Attrappe und sollten wohl...ach was weiß ich was die sollten. Mein Kumpel Lutz reichte in seinem Rollstuhl nicht an das Okular heran, so rollte er stattdessen zu den leeren Leitz Ordnern und ich versuchte ein Bild von ihm zu kriegen. Aber Lutz ist selbst mit Rollstuhl einfach nicht hoch genug. Also hob er langsam die gehörnte Hand. So wie ein grüßender Rocker. Wir haben ein paar mal rumprobiert und gegluckst wie die kleinen Kinder. Letztendlich konnte ich umständlich jedoch glücklicherweise ein Foto machen, welches jetzt den Hintergrund von meinem Smartphone ziert. Seit diesem Tag kam Lutz jedesmal mit dieser gehörnten Hand in die Mensa, sein Blick fixierte den Meinen. Jedes Mal starteten die Hörner auf Brusthöhe, da musste ich schon lachen, und beendeten ihren unaufhaltsamen Weg, weit über Lutz' Kopf hinaus. Diese Geste, dieses tief empathische Rock-on, dieses “gib nicht auf”, dieses “hier sind noch andere wie du”, dieses “du bist nicht allein”, das Leben ist schön, von einfach war nie die Rede, ist die vermutlich einzig mutmachende Attitüde, die je in dieser Wucht zu mir durchgedrungen ist. Sicherlich gab es in der Vergangenheit immer mal wieder Leute, die mir Mut gemacht haben, den ich auch eine Zeit lang annehmen konnte aber sowas Intensives hatte ich noch nicht erlebt. Überhaupt gab es in diesem Urlaub einige Leute, die mir trotz ihrer sehr viel schlechteren Verfassung gezeigt haben, wie Gelassenheit geht. Klar, mein Leben und auch
das einiger Anderer ist nicht leicht, das habe ich in meinem Urlaub erfahren und erlebt. Erholung im Sinne von “Ab zum Strand, Augen zu und braten lassen” war das ganz sicher nicht. Es war eher eine Erholung von meinen alten Gewohnheiten, Ansprüchen und Erwartungen. Wieder einmal. Oder einfach anders, eine mögliche zukünftige Situation, aus vielen differenzierteren Blickwinkeln heraus betrachtet. Von mehreren ungleichen Standpunkten her. Ich interpretiere diese Erfahrung sinnbildlich für eine ganzheitlich neue Ausrichtung meines Blickes auf meine Krankheit. Ich schaue auch in divers andere Richtungen als nur geradeaus und bin obendrein in der Lage, den aktuellen Bildausschnitt näher an mich heran zu holen und zu betrachten. Ebenso kann ich die Dinge, die um mich herum passieren, genauer in Augenschein nehmen. Ich bin jetzt mental in der Verfassung, noch vor dem Aufstehen, den Blick auf mich und mein Innerstes zu richten um mich zu fragen: “Wie geht's dir heute, worauf hast du Lust?”
Ich fühle mich aber auch in meiner Herangehensweise an die Krankheit bestärkt. Als ich wieder nach Hause kam, stand mein Nachbar plötzlich mit einem alten aber robusten Rollstuhl vor mir. Er schimpfte, ich solle mich doch das nächste Mal abmelden, sonst würden sich einige Menschen Sorgen um mich machen. Wie schön! Zwei Tage später habe ich den Rollstuhl, unter Zuhilfenahme der Umhängevorrichtung meiner Notfalltasche, die 30 Stufen zu meiner Wohnung, mit 3 Pausen, hochgeschleppt. Der Rollstuhl, er heißt Rocky und will offensichtlich nicht zurück zur Krankenkasse, steht nun hübsch integriert am Küchentisch. Ja klar, der erste Tag war echt hart, da ich mich ja absichtlich mit dem Rollstuhl auseinandersetze, obwohl ich es gar nicht gemusst hätte. Ich habe die Laufwege in der Wohnung noch breiter gemacht und natürlich auch schon ausprobiert, wie ich manche Dinge mit Rockys Hilfe erledigen kann. Ich liebe es zu spielen! Ich habe mich sogar schon bei dem Gedanken erwischt: “Irgendwie freue ich mich schon auf dich”, als ich ihn mal länger betrachtete. Das darf ich eigentlich keinem erzählen. Oder vielleicht erst recht? Meine Schwester sagt: "Krass, dass du dich damit immer so konfrontierst." Sie meint bestimmt, dass ich immer voll in solch vermeintlich unangenehme Situationen reingehe. Meine eindeutige Antwort: "Ich bin halt n krasser Typ." Denn meine entschiedene Haltung dazu ist nach wie vor: die Einschränkungen, die Behinderung, die Krankheit beginnt im Kopf und Verzicht ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Freiheit. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: der Verzicht auf das gewohnte Alte, weniger krass ambitionierte Ansprüche und herunter geschraubte Erwartungen sowie jede integrierbare Erleichterung, wie unschön die auch anfänglich erscheinen mag, das Alles erleichtert ungemein das Leben. Ein Leben welches schwerer nicht sein kann. Sogar Enrique Iglesias "Hero" kann ich mit dieser erweiterten Sicht auf mein Leiden einigermaßen erträglich machen. Wie schwer das aufs Herz drückt, Schnappatmung verursacht und mich auch Schluchzen lässt. Ein Blick auf das Hintergrundbild meines Handys und Lutz' Metal Fork reicht, um verschmitzt zu grinsen. Das alte Hintergrundbild zeigte die Auffahrt der Seilbahn hoch zur Zugspitze. Moment! Nein, ich habe diesen steinigen, steilen, unwirtlichen Weg bei der Abfahrt fotografiert. Der Aufbruch weg vom Berg, hin zu den Hörnern. Wow! Die wilde Fahrt hat nur 1 Jahr und 3 Monate gedauert. Was zwischendurch alles passiert ist! Was ich mich alles getraut habe. Was ich Geiles gemacht habe. Das Leben ist noch lange nicht vorbei. Diese vielen neuen Perspektiven, diese neuen Standpunkte ermächtigen mich, mein eigener Held zu sein. Ich kann meine Schmerzen wegküssen. Ich werde an meiner Seite stehen. Für immer. Ich kann mir selbst den Atem nehmen...