30 – Interlude - Zwacken im SB-Bereich

August 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Ich bin ja nun ein ganz armer Frührentner. Ich glaube das selbst schon fast, einige Menschen betrachten mich deshalb mitleidig und wollen mir irgendwelche Lasten abnehmen, Dinge erleichtern oder ganz erlassen. Kann dir gar nicht sagen wie sehr mich das anbricht. Ich sage jedem, dass ich alleine so weit kommen will, wie ich kann, ob ich dann anfange zu jammern, weiß ich noch nicht. Glücklicherweise ist Geld für mich kein problematisches Thema bezüglich der Verfügbarkeit. Anderen Leuten ist Geld scheinbar extrem wichtig, unabhängig davon, wie viel überhaupt vorhanden ist.
Ich fühle mich also genötigt, am Daumen zu lutschen und zu schreiben...

Ich muss schon wieder zur Bank. Jeden Tag brauche ich einen Zehner. Die Gewürze sind so schnell alle. Scheiß Corona, Schlange stehen vor der Sparkasse ist angesagt. Nur eine begrenzte Anzahl von Personen darf ins Foyer. Manche Leute holen ja tatsächlich noch Kontoauszüge aus Papier ab. Gerade beim älteren Publikum kann ich das verstehen, Gewohnheiten lassen sich im hohen Alter noch sehr viel schlechter ändern als bei uns jungen Leuten. Ich könnte meinem Ticker ja auch mal sagen, dass ich keinen Bock zum Bezahlen hab. Naja. Zwei ältere Damen stehen mitten im Weg und diskutieren einen Kontoauszug. Zwei Damen drin und noch sechs Leute draußen. Das kann ja dauern. Manchmal ist man auch wie vernagelt. Ich sage etwas lauter: "So Mädels, die Zahlen auf dem Kontoauszug ändern sich nicht mehr. Außerdem ist mein Ticker pünktlich." Kurz am Rande: kein Ticker ist pünktlich. Die Damen sehen mich entgeistert an, erinnern sich der Situation und schlurfen Richtung Ausgang. Aus dem Augenwinkel bemerke ich mit Holoblick, wie der Geldautomat hektisch sein Magazin am Laden ist. So viele Fuffies habe ich ja letzten Monat erst gesehen. Denn die Rente kommt ja jeden Monat neu. Ich kann mich da gar nicht gegen wehren, die Knete ist einfach druff. Ich habe mir angewöhnt, immer Ende des Monats zur Sparkasse zu gehen. Das ist wie ein Happening. Ein Happening des Sonnenuntergangs. Diese ganzen Rentner, ich dachte hier könnte ich wen kennenlernen. Ich hatte die Hoffnung, dass es noch mehr Frührentner, wie mich gibt, jedoch...irgendwie nicht. Interesse und Falten verhalten sich indirekt proportional. Also bin ich doch nur wegen der Kohle hier, obwohl mich die generell nur peripher tangiert. Energisch stecke ich meine Bankkarte in den Schlitz. Der Automat fängt direkt an zu weinen. Leises Wimmern tönt aus dem Schlitz. Piep, piep, piep. Sein Schlund öffnet sich mechanisch und augenblicklich beginnt er mich mit einem Stapel Fuffies zu bewerfen. Elegant weiche ich aus und suche Deckung. Der ganze Fußboden ist schon voll, wie das hier aussieht. Im nächsten Moment wechselt der Automat das Magazin, es hört sich an, als würde eine Abgesägte durchgeladen, das Licht ändert sich und die einfallende Sonne bringt die blauen Scheine zum Leuchten. Irgendwie winterlich trotz 30 Grad im SB-Bereich. Ein Magazinwechsel steht noch aus, jetzt fehlt noch rot! Je kleiner der Wert auf dem Schein, desto mehr Scheine... verstehste? RitschRatsch. Wie Herbstlaub purzeln die Scheine langsam und flatterhaft Richtung Fußboden. Wie gut, dass ich mit meinem neuen 60 € Rechen bewaffnet bin. Das top Produkt aus dem Baumarkt. Schwarz, leicht, 180°-Rechenfächer. Das ist ein super Rechen zum Raffen. Ein GeldRaffRechen. Und die guten 120l Müllbeutel! Die Blauen! Die, die so schön nach Plastik riechen! Nach fünf Minuten habe ich das gesamte Schüttgut umgeladen. Drei Säcke Geld muss ich nun aus der Sparkasse schleppen. Ey, Nee du, denke ich mir und rufe die zwei Damen von vorhin herbei. Die spielen immer noch mit ihren Kontoauszügen. "Könnt ihr mir mal helfen die drei Säcke Geld in den Mustang da hinten reinzustopfen?"

Wär ich nicht so reflektiert, würde ich mich ob meiner Gedanken in Grund und Boden schämen. Ich weiß, die Welt ist nicht gerecht. Ich habe, glaube ich, nur 18 Jahre oder so in die Rentenkasse eingezahlt, habe vielleicht einige Möglichkeiten wahrgenommen, die in dieser Form für Andere nicht zur Verfügung standen oder als nicht wichtig erachtet wurden. Ich bin voll erwerbsgemindert, und habe trotzdem ausreichend Geld zur Verfügung ohne x-mal nachzudenken, wofür ich es gebrauche. Natürlich habe ich jedesmal ein schlechtes Gewissen, wenn ich ältere Menschen sehe oder überhaupt Menschen, die leider mit ihrem Geld, der Rente, nicht zurande kommen, und zwar weil es zu wenig ist. Ich komme mir dabei wirklich blöd vor. Als würde ich bescheißen, als würde ich auf Kosten Anderer das Leben genießen. Aber das stimmt nicht, was ich heute bekomme, habe ich früher reingesteckt. Ich habe viel gearbeitet, auch nachts und Feiertags mit Firmenhandy. Damals war ich noch jung und konnte das ab. Doch glücklicherweise hat mich dieses Geld-Mantra nie erwischt. Mittlerweile kann ich recht gut mit Geld umgehen, ich vertrete diesen schrecklichen Konsumgedanken, im Sinne von schmeiß weg, kauf neu, überhaupt nicht. Ich hole mir kein Geld von der Krankenkasse wieder zurück, ich bescheiße nicht den Staat bzw. die Gesellschaft bezüglich des Pflegegeldes, ich spende eine beträchtliche Summe jeden Monat für verschiedene Zwecke. Was ich alleine stemmen kann, das stemme ich, ansonsten könnte ich selbst nicht mehr in den Spiegel schauen. Ich bin quasi wie ein Käfer, der blöderweise auf dem Rücken gelandet ist. Aber ich brauche jetzt nicht zig helfende Hände oder unendlich viel Material. Ich weiß selber, wie eine Nackenkippe geht, solange ich irgendetwas ausrichten kann, werde ich das tun, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Verlangen schon mal gar nicht. Die zwei Damen oder wer auch immer in dieser Gesellschaft haben vielleicht mehr Bedürfnis nach Unterstützung. Wer bin ich, diese Unterstützung zu verweigern oder zu verkomplizieren? Es gibt sicher genug schwarze Schafe da draußen, die diesen Sozialdarwinismus befeuern und Menschen daran hindern, ein schönes Leben zu leben. Es gibt sehr viel wichtigere Dinge im Leben als Geld. Das ist in erster Linie Kopfsache und bietet unglaublich viel Freiraum. Denk mal drüber nach!

Wer den Cent nicht ehrt,
damit nicht sein Päckchen beschwert,
sich selbst dem Diktat des Kapitals verwehrt,
der lebt unbeschwert.

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