2 – Am schlimmsten ist die Fatigue

Februar 2019

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Ich wache morgens auf und horche erst einmal in mich hinein. Sind die Energiereserven aufgeladen? Sind irgendwelche Extremitäten gelähmt oder irgendwie beeinträchtigt? Kannst du das, was du dir vorgenommen hast, an diesem Tag bewältigen?
Wie ist deine mentale Verfassung?
Was für ein Tag wird das wohl werden?
Jeder Tag ist anders.

Jeden Morgen das gleiche Ritual, die gleiche Routine. Kraftsparend und optimiert wird eins nach dem anderen abgearbeitet. Das frühere Multitasking ist jetzt unmöglich geworden. Die schönste Zeit des Tages. Ich bin gelernter Speditionskaufmann und arbeite bei einem Kurierdienst als Kundendienstmitarbeiter. In der Arbeit angekommen habe ich eine Stunde für mich allein, um viele Dinge zu erledigen, bevor der Dauerstress beginnt. E-Mails müssen bearbeitet, Telefonate angenommen und getätigt, laute Kollegen und Radio ertragen und Hitze im Sommer sowie Zugluft im Winter hingenommen werden. Rücksicht wird nur punktuell genommen.

Die eintretende Erschöpfung baut sich den Tag über auf. Das ständige Priorisieren von Aufgaben, die Reizüberflutung in der lauten Umgebung eines Großraumbüros und die permanenten Unterbrechungen führen gegen Mittag zum ersten handfesten Leistungseinbruch. Regelmäßige Pausen sind nicht möglich. Einen „Ruheraum“ gibt es nicht. Ich quäle mich durch den Tag und sehne den Feierabend herbei. Damit ich es mir auf der Couch gemütlich machen kann. Konzentration auf das Fernsehprogramm? Unwahrscheinlich. Soziale Kontakte pflegen? Unter der Woche eher nicht. Eigentlich müsste ich zum Rehasport. Den habe ich beantragt und genehmigt bekommen. Damit ich mit meiner MS „fit“ bleibe. Aber wann soll ich das machen? Nach der Arbeit, wenn ich erschöpft bin? Vor der Arbeit, um auf der Arbeit erschöpft zu sein?

Da die Fatigue mit all ihren Symptomatiken asynchron auftritt, kann ich jederzeit handlungsunfähig werden. Da hilft nicht mehr schlafen, vorschlafen oder koffeinhaltige Energydrinks. Im Gegenteil. Koffein, Alkohol und Nikotin sind Nervengifte. Sie pushen vielleicht kurzfristig. Danach ist die Wirkung eher ermüdend. Mittlerweile sind Aktivitäten außerhalb meines Berufslebens fast gar nicht mehr drin. Die Kraftreserven sind selten vorhanden, um Freunde zu treffen oder etwas zu unternehmen. Mein soziales Netz wird immer brüchiger und ich bewege mich auf zunehmende Isolation und daraus resultierende Depression zu. Dieses „Nicht-Teilhaben-Können“ führt zu extremer Motivationslosigkeit. Ich ziehe mich mehr und mehr in mich selbst zurück, habe mitunter heftige Gefühlsausbrüche, bin manchmal einfach nur lethargisch und mein Umfeld leidet unter meinen Stimmungsschwankungen.

Ich gehe nicht aus dem Haus, ohne gewisse Vorkehrungen zu treffen. Ich habe immer einen Plan, ein Ziel. Spontanität oder Unvorhergesehenes belastet mich. Oft bin ich im Auto unterwegs und plötzlich meldet sich die Blase. Schon wieder. Ich war vor 30 Minuten auf der Toilette und nun muss ich in Hannover-Innenstadt gegenüber der IHK auf dem Gehweg halten, um im Auto in einen Kaffeebecher zu pinkeln. Ironischerweise bin ich auf dem Weg zum Urologen, so habe ich wenigstens gleich eine frische Urinprobe zur Untersuchung für ihn. Um das lustig zu finden, passiert mir sowas zu oft. Ich habe vor einer Woche angefangen, eine Windel zu tragen. Wirklich. Gibt es etwas Demütigenderes für einen 35-Jährigen? Manchmal sind es nur ein paar Tropfen, manchmal die vollen 200 ml der Blase. Das kann ich nicht steuern. Dieser imperative Harndrang ist immer immens. Auch nachts. 2- bis 5-mal Toilettengang sind die Regel. Richtig Durchschlafen ist schon lange her.

Wenn ich normal laufe, sieht es aus als wäre ich betrunken. Ich muss mich extrem konzentrieren, um nicht aufzufallen. Dauerhaftes Kribbeln und Missempfindungen in den Beinen und damit einhergehende Gleichgewichtsstörungen und Koordinations-schwierigkeiten stellen mich permanent vor Herausforderungen. Ich laufe nur auf ebenem, befestigtem Untergrund. Wiese, Schnee, Matsch, Eis und Sand muss ich meiden. Aber wenn ich laufe, dann keine weiten Wege. Ein plötzlich eintretender Kraftverlust wegen der Fatigue zwingt mich zu einer Pause. Ich habe oft das Gefühl, mich irgendwo festhalten zu müssen, habe Angst, einen anderen Menschen mit zu Boden zu reißen. Plötzlich eintretende Taubheit und Gefühlsstörungen in Armen und Händen, die das Fassen, Greifen und vor allem Festhalten stören, behindern mich ebenso im Umgang mit anderen Menschen. Ich ernte immer fragende Blicke, wenn ich zitternd ein volles Glas durch den Raum balanciere. Oder mich selbst.
Treppensteigen geht nur mit Handlauf, trotzdem besteht ständige Stolper- und Sturzgefahr.

Natürlich leidet auch meine Konzentrationsfähigkeit. Meine Wahrnehmung ist verlangsamt, mein Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigt. Das ist auch bei sozialen Aktivitäten, z.B. Monopoly spielen, extrem hinderlich. Kleine Kinder oder Veranstaltungen muss ich regelmäßig verfrüht verlassen, da ich mich nicht auf viele Dinge gleichzeitig konzentrieren kann.

Bei Temperaturen über 25°C bin ich fast nicht zu gebrauchen. Die Wärme verstärkt alle Symptome, besonders die Fatigue. Ich tue dann nur Dinge, die unbedingt notwendig sind. Freunde und Familie fallen der Erschöpfung zum Opfer.

Alles zusammen steigert sich die Fatigue im Laufe des Tages zu einer immer wiederkehrenden Zerreißprobe und es kommt bei mir regelmäßig zu Belastungsstörungen. Dass heißt plötzlich auftretende körperliche Schwäche und phasenweise depressive Verstimmungen, die mir jegliche Motivation und Antriebskraft rauben. Die verschiedenen Symptome treten jeden Tag verschieden intensiv auf. Kurzfristige Planungen oder spontane Aktivitäten sind immer abhängig von noch verbliebener, kostbarer Restenergie.

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