17 – Die Rollstuhlhaltung

Januar 2021

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Mein Ex-Chef meinte früher des Öfteren zu mir, ich sei ein Bedenkenträger. Ich habe oft knifflige Transporte organisiert und musste, konnte und wollte immer von vorne bis hinten alles abwägen und beachten. Man nennt das den ganzheitlichen Ansatz. Andere Leute wiederum sagten, ich würde den Teufel an die Wand malen oder würde immer nur das Schlechte, das Negative sehen. Nein! Wie eindimensional. Ich sehe Möglichkeiten!

Und da es durchaus möglich ist, mit meiner Erkrankung an Multipler Sklerose im Rollstuhl zu landen, sind tiefe, ehrliche, reflektierte Überlegungen, bereits zum jetzigen Zeitpunkt an dem noch gar nicht abzusehen ist, wie meine Zukunft aussieht, für mich unvermeidbar und unerlässlich.

Es ist ein großer Unterschied, im Rollstuhl zu landen oder zu enden. Ich will so lange wie es geht selbstbestimmt und selbstständig sein. Dafür muss ich leider alle Eventualitäten in Betracht ziehen. Das ist nicht gerade erfreulich, aber ich habe keine Wahl, denn die Gedanken kommen mir von ganz alleine. Letztendlich gibt es so viele Möglichkeiten. Alle nämlich. Nicht auszudenken, was sein könnte, was ich im Leben wollte, wenn ich denn mal dies und das getan hätte, dann sollte die bloße Existenz doch erträglich sein.

Würde ich mir über solches Konjunktivgeschwurbel keine Gedanken machen, ich würde verrückt werden. Am Ende sind auch Konjunktive doch nur ein winziger Teil einer riesigen Wahrscheinlichkeitswelle, deren Teilchen sich mal für den einen, mal für den anderen Spalt entscheiden. Und zwar von ganz alleine, wir haben da gar keinen Einfluss drauf (Unschärferelation).

Der Zufall spielt also in diesem Universum eine kaum greifbare, übergeordnete Rolle. Ist das nicht wunderbar? Wir Menschen haben nur eine verschwindend kleine Wirkung auf die universellen Möglichkeiten. Diese Tatsache ist der gewichtigste Ansporn dafür, die wenigen Alternativen genauestens zu erkennen und einen eigenen Willen zu entwickeln. Das, was wir selbst in der Hand oder im Kopf haben, für unsere Zwecke, Belange, für unsere Hoffnungen und Wünsche zu nutzen.

Würde ich mich verschließen und diese durchaus unangenehmen Gedanken beiseiteschieben oder unterdrücken, ich würde mir selbst keinen Gefallen tun. Unglaublich dankbar bin ich für meine Fähigkeit, den ganzheitlichen Ansatz handhaben zu können. Ich habe einige Menschen gesehen, die sehenden Auges, aber ideenlos, in verfahrene Situationen gegangen worden sind und panisch, irgendwie mit irgendwas, verkrampft und verängstigt reagiert haben. Ich will sowas nicht. Ich erfahre manche Möglichkeit und bekomme mutmachendes Feedback von Freunden, die mich gerade wegen meiner Gedankengänge zu diversen Unternehmungen hinzuziehen. So falsch kann meine Herangehensweise an ein leidensgerechtes Leben doch gar nicht sein.

Ich leide lieber jetzt ein bisschen, immer mal wieder, laufe dann aber hoffentlich nicht Gefahr, im Moment der größten Versehrtheit zu verzweifeln. Um dann krumm und schief im Rollstuhl zu sitzen. Nicht mehr aufrecht zu sein, um ein positives Lebensgefühl beraubt. Ein bemitleidenswertes, abhängiges, verbittertes Häufchen Elend. Sicher, meine Hoffnung und Euphorie haben auch ihre Grenzen, ich verblende mich nicht selbst. Aber ich möchte selber entscheiden können, wann diese Grenzen erreicht sind.

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