16 – Danke 2020!

Dezember 2020

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Was für ein komisches und denkwürdiges Jahr! Corona war die Ausrede für Vieles. Und natürlich auch die Begründung. Viele Menschen mussten sich auf tiefgreifende Veränderungen in ihrem Alltag einstellen, ständig wurden Strategien verändert, die die gesamte globale Bevölkerung betrafen, verunsicherten, aufwiegelten, zusammenschweißten. Das ging über Eltern, die nicht wussten wohin mit ihren Kindern, bis hin zu Pflegebedürftigen und alten Menschen in Heimen.

Viele Menschen waren viel allein, manche sogar einsam in diesem Jahr. Selbstverständlich war es ebenso traurig für Familien, die sich gerade zu Weihnachten nicht wie gewohnt treffen und in den Arm nehmen konnten. Vieles fiel aufgrund der sich ständig verschlechternden Pandemielage einfach aus und fand nicht statt. Ich denke auch an die jungen Leute, die nicht wie gewohnt das Leben feiern, ihre Freunde treffen oder die Schule besuchen konnten.

Ich meine auch die entstandenen Lasten, die wir unseren Kindern hinterlassen werden. Nicht nur finanziell. Es war das Jahr der Lemmingpopulationen, wie der sogenannten Querdenker, aber auch der reflektierten, besonnenen und gerade in diesem Jahr dringend gebrauchten Satiriker und Comedians. Während die einen blendeten und geblendet worden sind, kämpften die anderen um ihr (Über-)Leben. Gerade die Flüchtlinge auf Lesbos und anderswo haben ein schreckliches Los gezogen, während der ach so bequeme Online-Handel weiter erblühte und wenigen Personen das Geschäft ihres Lebens bescherte.

Der überwiegende Teil der Menschen hatte das Nachsehen, während Wenige sich auf Kosten der Schwächeren bereicherten. Die Zahl der Millionäre ging durch die Decke, doch die Mehrheit der Menschen lebte nur vor sich hin, knapste an allen Enden, litt. Wir sehen sehr deutlich wie sich eine Gesellschaft verändert, wenn die Geselligkeit nicht wie gewohnt lebbar ist. Die Flucht ins Triviale, also meist in digitale Welten, schien für viele der einzige Ausweg zu sein.

Der ständige und weitere Ausbau der Digitalisierung unserer Welt lässt die Menschen ver(d)stummen, vereinsamen und nicht mehr am wirklichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben. Und doch scheint es als würde gerade die Digitalisierung den Menschen ein irgendwie-Überleben ermöglichen. Die große Frage ist allerdings, ob es auch ein Zurück gibt? Ein Zurück in die sogenannte Normalität.

Eigentlich ist Corona wie ein Brennglas auf alle offenen Fragen bzw. bestehenden Probleme der Menschheit. Es verdeutlicht einmal mehr, dass noch sehr viel zu tun ist, um weiterhin ein harmonisches und demokratisches Zusammenleben zu gewährleisten. Dieses Wachrütteln der Menschen hat hoffentlich auch einen positiven, nachhaltigen Effekt. Denn die Pandemie ist noch nicht vorbei. Es gibt bereits einen Impfstoff; aber das Virus mutiert. “Sehr spannend, an der Stelle” würde mein Freund Andreas jetzt sagen.

Überhaupt sind Freunde das Erste, wofür ich in diesem Jahr Danke sagen möchte. Andreas, Vanessa und Oli, Krini und Axel, Lisa und Klono, Kaan und Jerre, Nadine und Dominik, David und Mari, Helena, Nici und natürlich Dirk! Um nur Einige zu nennen. Ich bin ein sehr reicher Mann, stelle ich gerade fest. Manchmal muss man Dinge aufschreiben, um sie sich bewusst zu machen.

Überhaupt ist mein Bewusstsein oder besser die bewusste Wahrnehmung generell in diesem Jahr sehr viel schärfer und präziser geworden. Nicht zuletzt und eigentlich als die wichtigste Person in diesem Jahr möchte ich Brigitte erwähnen. Ohne ihre Bilder, ihre Reflexionen, ohne ihre mir zugewandten Gedanken hätte ich nicht so viele Wackersteine aus dem Weg räumen können wie ich es gerade dieses Jahr, zwar mühsam aber freudvoll, getan habe.

Wenn ich 2020 für mich noch einmal vergegenwärtige, entdecke ich überwiegend gute Erfahrungen, die mich zu einem reiferen Menschen haben werden lassen. Zugspitze, Wiesbaden, viele viele Bücher, zufällige Begegnungen, die Aktivitäten mit meiner Selbsthilfegruppe, Sportveranstaltungen, dieses Tagebuch, Kulturabende, Mel und  Alev, Koks und  Marijuana. Aber auch Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, Mut und Tapferkeit prägten dieses, mein Jahr.

Danke aber auch an meine Eltern und meine gesamte Familie für Ihr Verständnis und ihr zu-mir-halten. Danke sehr an meine Schwester für die vielen, vielen guten Gespräche, die wir hatten. Meiner Mama bin ich sehr viel näher und stärker verbunden als es früher der Fall gewesen war. Ich bin nun mal ihr erstes Kind gewesen, ich bin es immer noch! Mir war das selber gar nicht so bewusst, aber jetzt irgendwie schon.

Es hat sich viel verändert für mich in diesem Jahr und dafür danke ich auch mir selbst. Dass ich die Zeit genutzt habe, die Corona mir verschafft hat. Dass ich mich auf fremde und für mich außergewöhnliche Dinge eingelassen habe. Dass ich mutig geworden bin. Dass ich den Mund aufmachen und nun sagen kann, was ich will und wie ich es will. Dass ich mich ein Stück weit besser erkenne.

Ich war einmal mit dem Rollator unterwegs und habe mich im Sonnenschein auf Manfred, so heißt mein Rollator, sitzen sehen. In dieser Silhouette habe ich mich vorher noch nie selbst wirklich wahrgenommen und schon gar nicht angenommen. Es war ein stiller Moment, in dem ich kurzzeitig aufgehört habe zu atmen, um im nächsten Moment die kalte und belebende Luft tief einzusaugen. Mit einem ganz anderen, tieferen Gefühl der Besonnenheit setzte ich dann meinen Weg fort. Einige Passanten taten so, als wäre ich unsichtbar. Eine Horde Hasen kreuzte meinen Weg. Woher sie kamen? Was sie wohl vorhatten? Diese Selbsterfahrung war eine ähnliche Eingebung, wie 2019 als ich mit meinen Leidensgenossen durchs Ziel vom Survival Run im Serengeti Park, erledigt aber glücklich, gelaufen bin.

4 Wochen bin ich unlängst durch die Hölle gegangen und habe mir Hoffnungen gemacht, sehr erwartungsvoll auf die Auswirkungen von Ocrevus, einem neuen Medikament, von dem ich mir Linderung vor allem meiner Gehfähigkeit versprach. Am Abend vorher war ich von hoffnungsvoller Bangigkeit und Tränen erfüllt. Nur 2 oder 3 Minuten. Aber ich konnte diese Emotionen zulassen und tatsächlich genießen. Wäre ich gläubig, ich hätte gebetet.

Guter Engel

Guter Engel, gib mir Drogen
ich bin ganz allein hier oben.
Bitte, nimm die Sorge und den Schmerz
von meinem leidgeplagten Herz.

Gestern hab ich geweint
vor Sehnsucht und Freud,
heut bin ich wieder gelassen,
erwartungsvoll, was mir nun bleut.

Ob Ocrevus mich wohl anlacht,
fortun meine Lebenslust wieder anfacht?
Die Trübsal und die Scham vertreibt,
dies ist mein Traum für alle Zeit.

Heilende Kunst, verheißendes Hoffnungsglimmen,
spendest den Mut, mich selbst zu erklimmen.
Nur eine Dosis, dann und wann,
selbst wenn ich nicht mehr ohne kann.

Also guter Engel, gib mir Drogen
ich will noch viel weiter nach oben!
Geborgenheit, Wärme und Glaube an dich,
das bedeutet Weihnachten für mich.

Entsprechend beseelt und motiviert bin ich später allein nach Haus gefahren. Voller Vorfreude auf das, was die Zukunft mir bringen mag. Jedenfalls war am nächsten Tag der Antrieb, der Drive, die Motivation, die Lust am Leben fast unmittelbar spürbar und auch die Schwindelanfälle waren größtenteils verschwunden. Bisschen Kopfschmerzen und Arme und Beine noch holprig, aber im Großen und Ganzen freue ich mich schon auf die zweite Infusion im Januar. Das sind doch tolle Aussichten! Genauso wie die Reha im Februar!

Ich habe keine Angst mehr vor dem, was mich erwartet im neuen Jahr.  Auch wenn es noch Einiges zu erleben gibt, vertraue ich auf mich und die Unterstützung und Hilfe, die ich wohlwollend erfahren darf. Und so dankbar und hoffnungsvoll beende ich dieses für mich, lehrreiche, freudvolle, mühsame, entspannte, aber vor allem schöne Jahr 2020.

Wenn die Nacht am dunkelsten ist, ist der Stern am hellsten!

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