15 – Die Entdeckung der Langsamkeit des Seins

Dezember 2020

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Die Tage ziehen sich quälend langsam dahin. Der Winter 2020 wird eine bedeutsame Zeit. Es ist permanent grau und kalt und nass draußen. Bei mir drinnen ist es mal überheizt und mal gefühlt arschkalt. Meine Wohlfühltemperatur spannt sich vielleicht über 3, 4 oder 5 Grad. Die kriege ich nie konstant geregelt, da das Haus, in dem ich wohne, wohl aus den 60ern stammt und null Dämmung verbaut ist. Meine Heizkosten sehen entsprechend aus.

Eigentlich versuche ich, mit Bedacht unsere Mitwelt zu schonen. Um nicht noch mehr zu leiden, muss ich diesbezüglich einen Kompromiss eingehen. Es ist nämlich total nervig, erst zu frieren, trotz Zwiebeltechnik und Mütze, dann zu schwitzen, zu lüften, weil ich das Gefühl habe, keine Luft zu bekommen, wieder zu frieren und permanent an den Thermostaten zu drehen. Irgendwann einmal zahle ich mir selbst Kilometergeld für die Strecken, die ich in meiner Bude zurücklege.

Ich habe oft kalte Füße und Hände, also richtig kalt, so geh-bloß-von-mir-weg-kalt. Deswegen bin ich andauernd unterwegs in meiner Wohnung oder liege unter der großen Kuscheldecke und versuche, mich irgendwie zu wärmen. Auch hier entsteht ein Gefühl des gehetzt seins durch immerwährende Ungemütlichkeit.

Manchmal wünsch' ich mir einen Kachelofen in meiner Wohnung, am besten im Wohnzimmer natürlich. Dann hätte ich gewiss viel Arbeit und Dreck, beides versuche ich zu vermeiden bzw. zu verringern. Allerdings hätte ich dann auch Bewegung. Wenn ich mich bewege, und sei es auch nur profanes Spazierengehen, wird mir warm. Oder ich nehme die Kälte, besser gesagt die Unbehaglichkeit, nicht so wahr. Währenddessen bin ich nämlich total abgelenkt.

Zum Spazierengehen brauche ich mittlerweile einen Rollator. Meiner heißt Manfred. Ihn habe ich geschenkt bekommen, ich glaube meine Mama hatte die zündende Idee dazu. Manfred ist ein alter Knacker, weil er ein gebrauchter Gehwagen ist. Der hat bestimmt schon einiges gesehen und aushalten müssen. Entsprechend wackelig ist er auf manchen Untergründen.

Unerwarteterweise ist er dadurch auch eine Art Trainingsgerät für mich. Meine Arme sind ebenfalls ziemlich schwach und müssen ihn immer in der Spur halten. Ich versuche, dabei nicht zu verkrampfen. Das ist natürlich ein wenig anstrengend, mündet aber in einem super Trainingseffekt. Nach dem Flanieren beißen also nicht nur Beine und Lenden, sondern auch die Arme. Ist das nicht schön? Wenn, dann richtig!

Ich laufe recht langsam und immer konzentriert. Mittlerweile habe ich aber auch Augen für meine Umgebung und meine Mitmenschen. Letztere sind natürlich oft nur bei gutem Wetter anzutreffen. Heute war ich wieder mal unterwegs. Meine Güte! So viele Menschen in meiner Hood! Ich wusste gar nicht, dass so viele Leute hier wohnen. Und so viele Alte dazu. Merkwürdigerweise grüßen nur sehr wenige von sich aus. Die meisten schauen zu Boden als hätten sie Angst, auf einem Regenwurm auszurutschen. Aber ich dränge mich natürlich auf, indem ich grüße und die Menschen anlächel. Warum ich das mache, weiß ich nicht genau. Vielleicht brauche ich Aufmerksamkeit, vielleicht will ich wachrütteln. Vielleicht will ich auch einfach nur das Gefühl haben, gesehen zu werden. Vielleicht will ich auch einfach nur sein.

Ich bin lange Zeit selten vor die Tür gegangen. Habe lieber gekifft und meinen Tag auf dem Sofa verbracht. Ich glaube, ich brauche langsam mal ein Neues, denn meins ist schon ziemlich durchgelegen. Hm... eigentlich brauche ich nicht wirklich ein Neues, ich kann einfach die andere Seite mit meinem Hintern platt drücken. Was braucht der Mensch eigentlich wirklich? Nicht viel, das kann ich nunmehr aus eigener Erfahrung berichten. Ich meine damit natürlich ausschließlich Materielles. Dinge, die in unserer Alltagsrealität existieren und die auch ich lange Zeit für essentiell, das einzig Wahre und auf unbestimmte Weise heilend hielt. Dem ist nicht so.

Ich habe oft selber erlebt, wie betrübt und leer ich schon kurz nach Anschaffung irgendwelcher materieller Dinge war. Selbstverständlich war auch ich mit Begeisterung dabei, Neues zu entdecken und kopflos zu konsumieren. Nachhaltig war dies nicht. Die Ablenkung im Außen musste immer höher, immer schneller, immer weiter, immer neuer, immer geiler, immer schöner, immer größer sein. Immer besonderer. Aber den Kick oder das High, wie beim ersten Mal, kann ich in eben dieser Alltagsrealität nicht wiederholen.

Selbst das Kiffen, das sich wegbeamen aus der sogenannten Wirklichkeit, half auf Dauer nichts. Im Gegenteil: Das war letztendlich schädlich und erschwerte es mir, nach innen zu schauen bzw. mein Inneres zuzulassen. Noch ein Paradoxon! Ich habe gekifft, damit es mir gut geht. Am Ende war es die immer gleiche traurige Chronologie eines nach innen gerichteten Hilfeschreies. Führe mich zum Glück, denn ich weiß nicht wie! So in der Art. Das letzte Mal habe ich vor 5 Tagen gekifft. Wie euphorisch ich jetzt bin. Wie motiviert, wie wach.

Ich war also die letzten Tage, bedächtig und besonnen, spazieren. Mit Manfred. Ich weiß nun, wo ich mit dem Rollator die Gehwege hoch und wieder runter komme. Ich weiß, wo ich eine Pause einlegen kann, ohne andere eventuell zu stören bzw. wie Falschgeld im Weg rumzustehen. Besonders Autofahrer sind im ersten Moment immer erschrocken. Die bewegen sich ja nun ein klein wenig schneller vorwärts als ich. Ich bin wirklich langsam und das mit Absicht.

Als ich einmal Pause machte, fotografierte ich mich auf meinem Rollator sitzend, dabei fiel mir mein Schatten im Sonnenschein auf. Das war das erste Mal, dass ich mir in dieser Kontur selbst bewusst wurde. Nachdem ich einige Zeit auf meinem Manfred habe verstreichen lassen, lief ich langsam weiter. Die Sonne strahlte mich an und ich strahlte zurück. Ich genoss es, über die regennasse Straße, gesäumt von Äckern und Wiesen, zu schlurfen und eine Bande Hasen zu beobachten. Herbstlaub verfing sich in Manfreds Rädern. Irgendwo kreischte ein Vogel. Ich machte wieder eine Pause und lächelte vor mich hin. Diese Energie aus meiner Saumseligkeit. Faszinierend!

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