14 – Zwischen Hoffnung, Akzeptanz und Abschied

Dezember 2020

Triggerwarnung

In diesem Blog geht es um die unheilbare neurologische Erkrankung Multiple Sklerose und somit auch um mögliche Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks. Die Texte enthalten Veranschaulichungen und Sprachbilder für solche Trigger – wie Dis­­kriminierungs­erfahrungen oder Todeswunsch. Bei manchen Menschen kann dies negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall sein könnte.
Hilfe erhältst du unter 0511 – 70 33 38 oder info@dmsg-niedersachsen.de.

Heute ist wieder einer der verdammten Tage, die ich kaum ertrage. Und mich ständig selber frage: Warum ich, wieso, was soll das, kann es weitergehen?

Im Moment nehme ich keine Medikamente, die mein Immunsystem modulieren oder unterdrücken würden. Ich stehe kurz vor der Umstellung auf ein neues Medikament namens Ocrevus. Ich habe 1,5 - 2 Jahre zuvor begonnen, mich mit Gilenya zu behandeln. Leider stellte sich nun eine stetige Verschlechterung meines Gleichgewichts und meiner Koordinationsfähigkeit, also meines Gangbildes, ein. Und zwar so gravierend, dass meine Neurologin meinem Wunsch nach einer hoffentlich besseren/geeigneteren Therapie gleich entsprach. Sofort, ohne Umschweife und ohne Scheu, hinterfragte sie ein paar Dinge. Wir beschlossen daraufhin, das alte Medikament abzusetzen und ausschleichen zu lassen.

In dieser Phase befinde ich mich seit ca. 4 Wochen. Ich habe mittlerweile dreimal Blut gespendet. Leider sind meine Werte immer noch nicht entsprechend gut oder schlecht für die Infusion des neuen Medikaments. Müdigkeit ist mein täglicher Begleiter. Kurz nach dem Aufstehen ruft mein Bett schon wieder nach mir und nach der täglichen Dusche schreit es geradezu. Das hört den ganzen Tag nicht auf. Kraftlos bin ich und bar jeglicher Motivation. Es fühlt sich so an, als würde ich den ganzen Tag irgendwie mit Macht durchdrücken müssen. Aber es reicht nur für: hinlegen und aushalten. Hoffentlich ist es bald vorbei. Hoffentlich hält Ocrevus, was es verspricht.

Ich weine immer mal wieder in letzter Zeit. Es sind nicht direkt Schmerzen im Herz. Dieses Gefühl, diese Emotion der Traurigkeit und der Schwermut hält sich auch nicht lange und nachhaltig. Es manifestiert sich aber immer wieder neu und unerwartet in den abstrusesten Situationen. Beim Abwaschen oder beim Pizza aus dem Ofen holen oder beim Lüften.

Lüften müssen wir ja viel dieser Tage. Dieses scheiß Coronavirus macht uns Menschen doch auch irgendwie bekloppt. Ich habe mit Corona eigentlich nicht viel am Hut, aber ich werde natürlich täglich mit irgendwelchen Zahlen, Daten, Fakten zugebombt. Hm ... ich bombe mich damit selber zu. Den Fernseher kann ich ja auch ausmachen. Ich weiß, wo der rote Knopf ist.

Es ist sehr schwer, seine eigenen Gewohnheiten zu ändern. Ich denke, weiter oben habe ich diese Feststellung schon einmal getroffen. Hat sich nichts dran geändert! Aber eigentlich will ich überhaupt nichts ändern, denn mir gefällt mein Leben. Also mittlerweile. Irgendwie. Seit ich meine Therapeutin kennengelernt habe, ist so viel Veränderung in meinem Leben spürbar geworden. Ich nehme Dinge wahr, von denen ich vorher nicht mal eine Idee hatte.

Es fühlt sich so an, als würde ein riesiges Knäuel von verschlungenen Wegen in meinem Kopf heranwachsen, mein Gehirn ersetzen und ein diffuses, verheißungsvolles Bild zeichnen. Wie bei so einem Blur-Effekt. Alles durcheinander. Verschwommen. Vielleicht habe ich einfach zu viele Baustellen aufgerissen. Totale Orientierungslosigkeit. Vielleicht gebe ich mich selber, genervt von meiner Ratlosigkeit, zu sehr meiner Lust hin.

Meine Lust reduziert sich auf Ruhe und in Ruhe gelassen werden. Tatsächlich finde ich immer noch die Kraft, meine Buddies zu besuchen und mir was zu rauchen zu besorgen. Täglich. Die Kifferei bringt mir wenig Lust und schon gar keine Befriedigung mehr. Oft starre ich einfach nur Löcher in die Luft und denke und denke und denke. Natürlich keine brauchbaren Gedanken, sondern nur Wortkotze, Sprachhülsen, ausgedachte Geschichten, meist meinen Vater betreffend, in denen ich ihm Unrecht tue.

Ich stakse und quäle mich also wie ein Betrunkener durch die Wohnung, halte mich an Türrahmen und Wänden fest, bremse ab und zu mal mit dem Gesicht und denke eigentlich nur gequirlte Kacke. Den ganzen Tag. Ist das frustrierend! Ich verwarte meine Zeit und verschwende meine besten Jahre und ich hasse diese scheiß MS. Wäre mein Leben denn anders ohne MS? Ja - nein; anderes Thema, andere Bibliothek.

Ich hab echt Hoffnung, dass Ocrevus eine signifikante Änderung meines Lebensstils herbeiführen könnte. Ich noch viel bewusster die Dinge um mich herum wahrnehmen darf und die Möglichkeit bekomme, intensiver und zuversichtlicher als je zuvor am Leben teilzunehmen. Und wenn es das nicht tut?

Das ist nämlich das mit der Hoffnung! Ich habe erfahren, wie schmerzhaft es ist, wenn Hoffnung enttäuscht wird. Es ist besser, nicht zu hoffen, dann wird man nicht verletzt. Lange Zeit habe ich genauso gelebt. Meine Emotionen verdrängt. An den Rand meiner Wahrnehmung gekämpft. So funktioniere ich aber nicht mehr. Ich kann dieses Hoffen nicht abschalten. Ist sowieso nicht gut, Emotionen abschalten zu wollen.

Unangenehme Emotionen zuzulassen ist schwer, schmerzhaft und schön. Natürlich erst hinterher, wenn man bewusst reflektiert. Aber währenddessen, im Prozess, im Flow sozusagen, ist es eine unglaubliche Erfahrung. Diese Erfahrung macht was mit einem. Langsam, aber immer bestimmter, verändern mich meine Erfahrungen. Mit einem verschmitzten und wohlwollenden, inneren Lächeln nehme ich Menschen und Begebenheiten sehr viel offener wahr. Allein dieses zulassen von Gefühlen und entdecken der Dinge zwischen den Zeilen bzw. hinter dem Menschen und seiner Geschichte ist unglaublich wertvoll.

Sicherlich bin ich dafür viel empfänglicher geworden. Zurückhaltung und Demut sind zwei sehr präsente Eigenschaften von mir geworden. Dieses Paradoxon habe ich auch meiner vormals unterdrückten Hoffnung zu verdanken. Und diese Hoffnung lässt mich weitermachen. Sie lässt mich morgens aufstehen und den Tag, nicht unbedingt freudig aber entschlossen, begehen. Ich setze mich mit diversen Aspekten meiner Erkrankung auseinander, versuche Essentielles von Blödsinn zu trennen, einen Weg nur für mich zu finden. Zu akzeptieren, um mich zu verabschieden. Nicht von mir selber wohlgemerkt! Aber von Erwartungen, von meinem eigenen Anspruch an das Leben und mich selbst. Am Ende gehört auch der Tod zum Leben. Jede Art von Leid. Unvollkommenheit. Ich schätze ich weiß noch gar nicht, was alles in mir steckt.

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