Wir sind 5 militante Rollstuhlfahrer, zwei Gangster mit Rollator, drei Betreuer und mit dem Rest stimmt auch irgendwas nicht. Wir sind Leute, die gesellschaftlich ein wenig im Abseits stehen ob unserer Erkrankung an Multipler Sklerose. Doch auch wir wollen mal Urlaub machen, uns vom Wettkampf im Alltag erholen und der gefühlten unsozialen, egoistischen Ungerechtigkeit für ein oder zwei Momente entfliehen. Glücklicherweise gibt es sehr sozial
eingestellte Menschen, Institutionen, Stiftungen und Vereine, die sich Unserer annehmen. Sich um Bürokratie und Organisation, Finanzierung und Durchführung kümmern, um uns Versehrten eine schöne Zeit in jeglicher Hinsicht zu ermöglichen. Wir haben uns hier auf Usedom in einem Familienhotel versammelt, dass riesige Rücksicht auf Menschen mit Behinderung nimmt. Hier ist fast alles barrierefrei, individuelle Wünsche werden wohlwollend berücksichtigt und wenn nicht gleich eine Lösung für ein spezielles Bedürfnis vorhanden ist, wird eine gefunden ohne lang zu diskutieren. So sollte es sein. Doch Menschen sind eigentümlicherweise merkwürdige Geschöpfe. Behinderte sehen sich selbst als ganz normale Leute, die einfach nur in Ruhe leben wollen. Denen ist die, nur für sie bestimmte, eindeutige und etikettierende, sowieso immer diskriminierende Bezeichnung irgendwann herzlich egal. Wir wollen Alles selber machen, solange es geht selbständig bleiben und vor allem frei entscheiden dürfen. Trotz oder gerade wegen unserer beschissenen Behinderung. Erschwert wird dieses allerdings durch irgendwelche wiederkehrenden finanziellen und bürokratischen Streitigkeiten, die unser hochgelobtes,
kapitalistisches Schweinesystem mehr und mehr zu fördern scheint. Auch vermeintlich gesunde Menschen, gerade Autofahrer, nehmen oft wenig Rücksicht oder glänzen mit ihrer Unbeholfenheit. Natürlich und glücklicherweise sind nicht alle Menschen so egoistisch eingestellt und froh nichts mit uns zu tun haben zu müssen.
Ich war fast hautnah dabei als Dirk selbst feststellt, dass es kognitiv für ihn immer schwieriger wird, den Überblick zu behalten, selber an Alles zu denken, Zusammenhänge zu erkennen und danach zu handeln, Prioritäten zu setzen und selbstständig und umfänglich für sich sorgen zu können. Sein Gepäck hat er allein mit einem Transportunternehmen von Hannover nach Zinnowitz verortet, aber leider sein MS Medikament vergessen mitzunehmen oder auch nur vergessen, wohin er es gesteckt hat. Spielt keine Rolle, es ist nicht zu finden. Halbnackt und betrübt im Rollstuhl sitzend sagt er traurig und mit Tränen in den Augen: "Ich kriege langsam mit, das meine Demenz immer auffälliger wird." Er hat sorgfältig alles durchsucht, aber sein Aubagio bleibt verschwunden. Ich teile mit ihm das Zimmer, ich mache sein Bett, sehe und erledige Dinge, die er einfach nicht kann. Wir haben zusammen organisiert, dass seine Neurologin in Hannover ein Rezept für sein arschteures Medikament hierher auf die Halbinsel faxt und das Original per Post hinterher schickt, damit die finanziellen Belange auch bedient werden. Diese, eigentlich einfache Prozedur, war nötig, damit Dirk keinen Schub riskiert, würde er eine Woche lang sein Medikament nicht nehmen. Geschwächte Menschen neigen nämlich dazu, sich zurückzuziehen und ihre eigenen und manchmal quälenden Bedürfnisse hintenan zu stellen. Eine solche Selbstgefährdung sollte aber generell keine Option sein und ist in Deutschland glücklicherweise nicht notwendig. Aber man muss wissen wollen, was überhaupt die Möglichkeiten sind. Die Arzthelferin in Hannover hat sofort empathisch reagiert und alles in die Wege geleitet, damit wir das Medikament hier auf der Insel ersatzweise bekommen können. Auch die Apothekerin war durchaus im Stress, aber hat uns, vielmehr Dirk, ohne zu Murren, geholfen. Kognitive Defizite bleiben bei der MS leider oft nicht aus, entwickeln sich sehr individuell und schleichend. Voll scheiße. Bei mir ist es noch nicht soweit, wenn ich etwas kann, ist es organisieren und mich in die Lage anderer Menschen hineinversetzen. Doch fürs Gehirn gibt es leider keinen Rollstuhl, der geistige Defizite kompensieren könnte. "Daniel Düsentrieb darf mal einen erfinden!" lacht Dirk endlich, bevor er sich, wieder gelöst und völlig erschöpft, aufs Bett wuchtet und erstmal zwei Stunden ratzt. Er braucht wieder Energie, wir wollen später noch zur Apotheke, seine Medis abholen. Das sind hin und zurück nicht ganz 2 Kilometer, eigentlich müsste auch ich meinen inneren Akku aufladen, stattdessen schreibe ich, während ich auf die Zimmerdame warte. Die Lauferei am Rollator wird für mich zunehmend anstrengender und ich immer langsamer. Doch noch bin ich fitter als Dirk und meinen Freund unterstütze ich, wo ich kann. Er ist dankbar darüber, für mich ist es eine Selbstverständlichkeit zu helfen. Jetzt pennt er schon drei Stunden. Völlig begreiflich, Sorge und Unsicherheit zerren unheimlich am Energielevel. Hauptsache, er lässt mich heut Nacht schlafen. Diese freundschaftliche Symbiose, die wir miteinander eingegangen sind, ist für uns beide hilfreich. Ich kriege aus erster Hand direkt aufgezeigt, welch vielfältige Probleme auftreten können. Sei es das Aussteigen aus dem Rollstuhl um ins Bett zu kommen oder Zähneputzen oder Hose anziehen etc. Ich kann mich sehr einfühlsam in die Lage von Dirk hineinversetzen und nachhaltige Tipps zur besseren Bewältigung von alltäglichen Problemen geben. Das dieses nicht nur übergriffiges Bescheidwissertum ist, beweist er mir jeden Tag. Stolz wie Oskar ist er, wenn er nun wieselflink aus seiner Maschine steigt um sich auf dem Bauch liegend die Hose sehr viel Kraft sparender und nun auch vollständig anziehen zu können. Auch die korrekte Höheneinstellung und geeignete Positionierung eines Duschstuhls ermöglicht sehr viel Freiraum und spart zusätzlich körperliche Energie. Gerade die morgendliche Zeit im Bad ist sehr kraftraubend. Dirk fragt mich wiederholt, ob es mir nicht auf den Keks geht, mich mit ihm und seiner Körperlichkeit bzw. dem Handling seiner Körperlichkeit und zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln zu beschäftigen. Nein, denn auch ich könnte irgendwann in einer ähnlichen Situation wie er sein, warum sollte ich mich einer solchen Möglichkeit verschließen? In der Zwischenzeit kann ich mein Wissen und meine Überlegungen mit ihm teilen.
Denn irgendwann sind Menschen generell irgendwie eingefahren und bestimmte Verhaltensweisen schleifen sich regelrecht ein. Auch unpraktische Strategien. Allein nur auf die Idee zu kommen vielleicht mal die linke Seite statt der Rechten zu benutzen oder sich zu drehen, um gänzlich andere Möglichkeiten zu entdecken, auch Hilfe anzunehmen, scheint irgendwann nicht mehr im weiteren Fokus bzw. Bewusstsein zu bestehen. Vielmehr reduziert sich der eigene Horizont auf einen selbst und das persönliche Leid, lässt die Umgebung und vor allem das Verständnis für gesellschaftliche Vorgänge verschwimmen. Im Zuge dessen konzentrieren sich die Gespräche untereinander auf die verfluchte Krankheit, ihrer umfassenden und niemals enden wollenden Problematik und das vermeintliche Desinteresse von z.B. Ärzten, die angeblich gar nicht helfen wollen. Es wird viel geschimpft und nach Zustimmung geheischt. Und zwar ziemlich hartnäckig und manchmal auch aufdringlich. Das kann für Außenstehende total anstrengend zu ertragen sein, auch weil nachvollziehbarer Weise das Verständnis fehlt. Für mich ist es anstrengend, weil ich mich mit Absicht in Situationen begebe, die Verständnis und Erfahrungswissen herstellen sollen. Noch mal, für Außenstehende, auch für mich, kosten diese Erfahrungen unglaublich viel Überwindung, doch irgendwie mag ich diese Maximalkonfrontationen. Die größte Behinderung entsteht meistens im Kopf. Dirk aber ist über die Jahre so fit bzw. so abgeklärt, dass er schlimme Dinge, die eigentlich gar nicht zum Lachen sind, ins Lächerliche ziehen und auch artikulieren kann. Er würde sonst durchdrehen, sagt er. Ich brachte den Vergleich mit einer Schranke, unter der er nicht durchfahren auch nicht drüber hüpfen kann, immer wieder dagegen fährt und mit dem Kopf an die Latte stößt. "Aber nicht gegen die beim Drive-In bei McDonald's!", lacht er. Eines Nachts kündigte sich ein olfaktorisch herausforderndes Malheur an. Diese Nahaufnahme, die ich in mikroskopischer Auflösung erlebte, will ich hier nicht ausführlich im Detail wiedergeben. Ich sage nur medikamentös herbeigeführte Verstopfung mit anschließendem Durchfall, drei Tage später. In einem Körper mit Empfindungsstörungen. In einem Körper, der nicht entsprechend rechtzeitig auf die Toilette verortet werden kann. Auch, weil Kleinigkeiten, die Einrichtung und Gestaltung eines Zimmers, einer Wohnung, generell der Umgebung niemals zu 100% den sich auch ändernden Bedürfnissen eines Behinderten entsprechen können. Die Behinderung kann im wahrsten Sinne so Scheiße sein, das gar nichts anderes bleibt als Humor, um diese schrecklichen, immer wiederkehrenden Erlebnisse überhaupt zu ertragen. Ich habe hier im Frühstückssaal ein Berliner Pärchen beobachtet. Er im Rollstuhl und fast bewegungslos, liebevoll bewirtet und ernährt von seiner Frau. Die zwei sind über 60 Jahre verheiratet und immer aktiv gewesen bzw. haben das Leben genießend gemeinsam alle Widrigkeiten bestritten. Überhaupt ist der Zusammenhalt auch nur teilweise versehrter Pärchen sehr beeindruckend und rührend zugleich.
Ich will nicht irgendwann anfangen zu jammern und mit meinen wachsenden körperlichen Unzulänglichkeiten Anderen zur Last fallen. Das liegt sicherlich auch an den Glaubenssätzen meiner Kindheit. Ich will wissen und ich will machen. Das entspricht meinem Wesen. Aber die scheiß Fatigue hindert mich oft an Vielem, ich überlege eine Kortisontherapie zu machen und befeuere damit wieder mal eine diffuse Hoffnung. Dagegen kann ich nichts machen, ist mir mittlerweile klar. Ich versuche also nicht, mich zu überwinden, ich lerne vielmehr mit mir selbst immer wieder neu umzugehen. Das ist erheblich leichter und nicht so schrecklich verkrampft...und doch habe ich das unbestimmte Gefühl genau das zu sein...